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Dem König vor allem steht die Vollgewalt der
Exekutive zu, die er durch verantwortliche Minister
ausübt, ihm allein auch das Recht, Gesetze vor-
zuschlagen und diese, nach Zustimmung durch die
aus der Pairs= und der Deputiertenkammer zu-
sammengesetzte gesetzgebende Körperschaft, zu sank-
tionieren und zu verkündigen.
Auch in den meisten übrigen Ländern des Kon-
tinents ging man nach dem Zusammenbruche der
napoleonischen Herrschaft bei der dadurch bedingten
Neuordnung der Dinge, angeregt durch das Bei-
spiel Frankreichs und dafür, wie bereits bemerkt,
längst disponiert, mit einer gewissen Selbstver-
ständlichkeit dazu über, sich Verfassungen zu geben
und dieselben mit nicht gerade allzu starken In-
dividualisierungen den gegebenen Vorbildern, der
englischen bzw. den oben bezeichneten beiden franzö-
sischen, anzupassen. Nicht verwunderlich ist es, dabei
die Wahrnehmung zu machen, daß die Verfassungen,
welche der Revolutionsperiode zeitlich am nächsten
stehen, auch deren Ideen am lebendigsten wider-
spiegeln und somit im wesentlichen die Züge der
Konstitution von 1791 an sich tragen, daß da-
gegen diejenigen, welche einer späteren Zeit an-
gehören, sich die Grundzüge der Charte von 1814
aneigneten. Entsprechendes wiederholt sich dann,
wenn im Laufe des 19. Jahrh. der eine oder andere
Staat sich gezwungen sieht, seine Verfassung zu
revidieren und dabei mehr unter der Einwirkung
revolutionärer oder reaktionärer Strömungen und
Mächte steht. Und wo im Laufe desselben Jahr-
hunderts Neubildungen von Staaten sich voll-
zogen, wie dies z. B. mit Belgien, dem geeinigten
Königreich Italien, Rumänien, Bulgarien, Ser-
bien geschah, da stehen ihre Verfassungen in gleicher
Weise unter dem Einflusse dieser beiden Konsti-
tutionen. Und dasselbe ist der Fall, wo alte, bis
dahin absolutistisch regierte Staaten, wie Japan
und in neuester Zeit die Türkei und Rußland,
sich Verfassungen mit Volksvertretung gegeben
haben. In Deutschland speziell begannen am
frühesten, und zwar unmittelbar nach den Frei-
heitskriegen, die süddeutschen Staaten sich Ver-
fassungen nach dem Muster der Charte von 1814
zu schaffen, aber zum Abschlusse kam diese Verfas-
sungsbewegung erst nach den Unruhen von 1848.
Doa erst ging auch Preußen von der ständischen
zur konstitutionellen Monarchie über und erhielt
eine ebenfalls die Grundzüge der Charte von 1814
aufweisende Verfassung. Noch später, erst 1861
bzw. 1867, tat OÖsterreich den gleichen Schritt.
Zurück blieben nur die beiden Mecklenburg, die
somit die einzigen monarchisch regierten Staaten
Deutschlands, ja des ganzen europäischen Kon-
tinents sind, die noch einer modernen Verfassung
kenhesmen; sie besitzen noch eine wesentlich stän-
ische.
In welcher Weise die einzelnen Staaten ihre
Verfassungen konkret ausgestalteten, muß der Dar-
stellung in den Artikeln über diese Länder über-
lassen bleiben.
Konstitutionalismus.
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II. Wesen und Wert des Konstitutionakis-
mus. 1. Wie aus den letzten Bemerkungen zu
entnehmen, scheiden sich die modernen Verfassungen
in zwei Hauptgruppen, in solche, welche der eng-
lischen Verfassung bzw. der französischen Kon-
stitution von 1791, und solche, welche der Charte
von 1814 nachgebildet sind. Entsprechend unter-
scheidet die Staatslehre zwei Haupttypen unserer
Verfassungssysteme, den Parlamentarismus für
jene, den Konstitutionalismus für diese Gruppe.
Beide zusammen begreift man auch wohl unter
dem Ausdrucke Konstitutionalismus im weiteren
Sinne, dem dann der Konstitutionalismus im
eben bezeichneten als dem engeren Sinne entgegen-
gestellt wird. Der Parlamentarismus ist in einem
besondern Artikel zu behandeln; aber gleich hier
ist zu bemerken, daß der tiefgehendste wesentlichste
Unterschied zwischen ihm und dem Konstitutionalis-
mus (im eigentlichen Sinne) darin besteht, daß die
souveräne Gewalt des Staates nach jenem ganz bei
dem Volke als solchem bzw. seiner Vertretung ver-
blieben ist, nach diesem aber ihren Mittelpunkt
und Träger in dem selbstberechtigten Monarchen
findet. Und dieser Unterschied wird am letzten Ende
immer entscheidend bleiben müssen dafür, ob nach
dem in den verschiedenen Verfassungen recht ver-
schieden abgegrenzten Maße der monarchischen Be-
schränkung ein bestimmter Staat zu den parlamen-
tarisch oder zu den konstitutionell regierten Staaten
zu zählen ist. Nicht unerwähnt mag bleiben, daß
die tatsächliche Ubung mit den positiv-rechtlichen
Bestimmungen zuweilen nicht übereinstimmt. So
ist Italien nach seinen positiven Verfassungsbe-
stimmungen zweifellos unter die konstitutionell
regierten Staaten zu rechnen, während im Punkte
der Ministerernennung und zentlassung (vgl. unten
60) eine nur dem parlamentarischen System eigne
UÜbung herrscht. Daß es auch monarchische Ver-
fassungen geben kann, die in keines der beiden
Systeme so recht passen wollen, hat sich an der
cäsaristischen Verfassung Frankreichs unter Na-
poleon III. (s. unten 6 am Schluß) gezeigt.
2. Für das Wesen des konstitutionellen Systems
ist demnach vor allem die staatsrechtliche Stellung
des Monarchen von entscheidender Bedeutung.
Nach ihm hat der Monarch seine Stellung im
Staate nicht etwa von dem souveränen Volke er-
halten, ist nicht dessen Delegierter, dessen Bevoll-
mächtigter, dessen Organ, so daß der ihm erteilte
Auftrag auch etwa zurückgenommen oder seine
Machtbefugnis einseitig und gegen seinen Willen
geändert, insbesondere eingeschränkt werden könnte.
Er ist vielmehr der Inhaber der Staatsgewalt
aus eigenem, selbständigem Recht. Aber diese
monarchische Gewalt ist keine willkürliche, sie ist
vielmehr eine gesetzlich, und zwar verfassungsgesetz-
lich gebundene und begrenzte. Auch in absolutistisch
regierten Staaten verschiedenster Perioden fanden
sich staatsrechtliche Regeln, an die die monarchische
Gewalt sich gebunden zu erachten hatte, aber trotz
dieser Bindung übte hier der Monarch die Staats-