Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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der herrschenden Ansicht von dem Volke selbst, das 
sie doch repräsentieren soll. Der Grund hierfür 
liegt in dem in England bereits um die Mitte des 
18. Jahrh. gewohnheitsrechtlich aufgenommenen, 
zum erstenmal in der französischen Konstitution 
vom 3./14. Sept. 1791 ausdrücklich erklärten und 
seitdem überall geltenden Grundsatze, daß der ein- 
zelne Abgeordnete nicht der Vertreter seines Wahl- 
kreises, sondern des gesamten Volkes und nicht an 
Aufträge und Instruktionen seitens seiner Wähler 
gebunden sei, worüber Näheres im Art. Abgeord- 
neter unter II zu ersehen. Ist in dieser Art jede 
rechtliche Verbindung zwischen dem einzelnen Ab- 
geordneten und seinen Wählern durchschnitten, so 
ist sie es auch für das Kollegium der Abgeordneten 
als solches, und damit ist, insbesondere mit Rück- 
sicht darauf, daß auch die Wähler nicht imstande 
sind, den Abgeordneten abzurufen, für die Dauer 
einer Legislaturperiode der Parlamentswille an 
die Stelle des Volkswillens gesetzt, eine Wahrheit, 
über die andere staatsrechtliche Konstruktionsver- 
suche betreffend das Verhältnis des Parlaments 
zum Volke nicht hinweghelfen können. 
Gründe allgemeiner Art, aber in entscheidender 
Weise der zuletzt hervorgehobene Umstand, rechtfer- 
tigen daher die unerläßliche Forderung, daß im kon- 
stitutionellen Staate das Parlament in einer Weise 
zusammengesetzt ist, daß es in Wirklichkeit auch 
alsdie Vertretung des gesamten Volkes angesprochen 
werden kann. Grundsätzlich ist daher die Forderung 
zu erheben, daß den im Volke sich findenden poli- 
tischen Minderheiten die Sicherheit gegeben ist, 
im Parlamente entsprechend vertreten zu sein. Die 
Vorbedingung dafür ist ein gerechtes Wahlsystem 
(s. d. Art. Wahlrecht). 
10. Will man den praktischen Wert des vor- 
stehend skizzierten konstitutionellen Systems be- 
urteilen, so wird man sich gedrungen fühlen, in 
erster Linie die Erfahrungen zu befragen, die mit 
ihm und mit andern Staatsformen im Laufe der 
Zeit gemacht worden sind. Aber ohne weiteres er- 
gibt sich auch schon das Unzulängliche dieser Be- 
trachtungsweise, hat es doch zu allen Zeiten gute 
und schlechte Beispiele jeder auch nur möglichen 
Staatsform, einschließlich der konstitutionellen, ge- 
geben. Die weisesten Alleinherrscher, die aus eigner 
Kraft ihr Volk und ihren Staat zur größten Blüte 
brachten, haben abgewechselt mit den größten 
Scheusalen, die auf beide das größte Elend häuften 
und die ihnen überlieferte Menschheit auf das Un- 
würdigste unter die Füße traten. Und zu allen 
Zeiten haben Republiken bestanden, in denen die 
Freiheit des Volkes, die zu erstreben und zu sichern 
als oberstes und heiligstes Prinzip galt, in glän- 
zender Weise verwirklicht, aber auch solche, in 
denen jede freiheitliche Regung im Blute der 
Bürger erstickt wurde. Und es hat endlich Staaten 
mit Repräsentativverfassung alter und neuer Obser- 
vanz gegeben, in denen das harmonische Zusammen- 
wirken von Fürst und Volk, von Regierung und 
Volksvertretung Zustände vollkommenster Befrie- 
Konstitutionalismus. 
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digung schuf, dagegen auch solche, in denen Mon- 
arch und Volksvertretung in bitterer Feindschaft 
sich gegenüberstanden, das Volk in Parteiungen 
zerrissen war, die sich leidenschaftlich befehdeten 
und so den Staat nach innen und außen schwäch- 
ten, Staaten auch, in denen Recht und Gerechtig- 
keit für den der Minderheit angehörenden Volks- 
teil keine Stätte hatte; denn gerade bei dieser 
Verfassungsform darf nicht, was oft übersehen 
wird, die Beschränkung des Monarchen in der 
Ausübung der Staatsgewalt mit einer Beschrän- 
kung der letzteren an sich identifiziert werden. Im 
Gegenteil, auch in konstitutionellen Staaten hat 
der Staatsabsolutismus, die Staatsomnipotenz 
Triumphe gefeiert, Macht über Recht gesiegt, was 
um so verbitternder auf den vergewaltigten Volks- 
teil wirken mußte, als die Willkür der Majorität 
in der Volksvertretung durch Handhabung des 
Gesetzgebungsapparates sich den Schein des Rechts 
zu verschaffen wußte. Von einer absolut guten 
oder besten Verfassungsform auf Grund von Er- 
fahrungen sprechen zu wollen, erscheint daher nicht 
angängig. Man wird wenigstens Erwägungen 
allgemeiner Natur dabei Raum gewähren müssen, 
die sich aus dem Zwecke des Staates und aus den 
mit einiger Sicherheit zu berechnenden Wirkungen 
der verschiedenen Staatsformen auf die ihnen aus- 
gesetzten Menschen und Dinge ergeben. Da wird 
man denn, ohne ernstlichen Widerspruch befürchten 
zu müssen, mit John Stuart Mill es als eine 
höchst verderbliche und grundfalsche Auffassung 
bezeichnen müssen, daß, wenn man nur immer 
eines guten Despoten gewiß wäre, die Despotie 
oder Willkürherrschaft die beste Regierungsform 
sei. Es bedarf in dieser Richtung nur des Hinweises 
darauf, wie gerade die beste Despotie erschlaffend 
und entkräftend auf die Gedanken= und Gefühls- 
welt, auf den Tätigkeitstrieb eines Volkes ein- 
wirken muß, wie sie geeignet ist, die geistigen 
Kräfte einer Nation, vornehmlich in der Richtung 
einer Einflußnahme auf die Staatszwecke, lahm 
zu legen und nicht minder die moralischen Eigen- 
schaften der Bevölkerung abzustumpfen, ganz ab- 
gesehen davon, daß es eines Kulturvolkes unwür- 
dig erscheint, als recht= und willenlose Masse von 
der Mitbestimmung über sein eigenes Geschick, sein 
eenes Wohl und Wehe ausgeschlossen zu sein. 
„In diesem letzteren Umstande, in dem unveräußer- 
lichen Rechte des Volkes, „mitzuraten, wo es 
leisten, gehört zu werden, wo es gehorchen soll“, 
liegt vielmehr der letzte und durchschlagendste 
Erund für die Alleinberechtigung des konstitutio- 
nellen Systems im weiteren Sinne (s. oben unter 
1). Dabei kann zugegeben werden und ist oben 
bereits zugestanden, daß, da jedes Volk in jeder 
Zeit eine Verfassung beanspruchen darf, die den 
jedesmaligen Eigentümlichkeiten und Bedürfnissen 
am besten Rechnung trägt, der absoluten Mon- 
archie nicht unter allen Umständen die Berechtigung 
abgesprochen werden kann. Die entsprechende Er- 
wägung wird man auch gelten lassen müssen bei 
 
	        
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