Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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mit mehr Recht könnte man sie als die wirksamste 
Ursache bezeichnen; denn hält die Konsumtion 
stand, so wird in einer noch so gesteigerten Pro- 
duktion eine Gefahr nicht zu finden sein. Allein 
bei ihr wird man immer nach Gründen suchen 
müssen, auf denen sie selbst wieder beruht. Be- 
schränkt man sich indes zunächst einmal darauf, 
die Gleichgewichtsstörungen zwischen Produktion 
und Konsumtion zu betrachten, die doch wohl als 
die häufigsten Krisen zu bezeichnen sind, und nach 
den Ursachen zu forschen, aus welchen diese Krisen 
gerade als Handelskrisen zur Erscheinung und zum 
Ausbruch kommen, so scheint uns Schäffle (a. a. O.) 
recht zu haben, wenn er (im wesentlichen) sagt: 
„Es kommt darauf an, das Verhältnis des Han- 
dels zu jenen Gleichgewichtsstörungen zu be- 
stimmen. Der Handel ist der Vermittler zwischen 
Produktion und Konsumtion. Er vollzieht diese 
Vermittlung namentlich durch eine Kette von Kre- 
diten nach beiden Seiten hin. Diese Kredite sollen 
getilgt werden durch Zahlungen, welche sich in 
einer oft langen Kette aufwinden, bis sie in die 
Hand des Produzenten gelangen. Der Produzent 
aber ist selbst wieder Käufer von Rohstoffen, 
Halbfabrikaten, Arbeit usw., welche er mit der ein- 
gehenden Zahlung decken muß. Solange die ganze 
Kreditkette in regelmäßiger Zahlung sich leicht auf- 
windet, ist es ein gesundes Arbeiten in der Volks- 
wirtschaft. Hört dies auf, so beginnt die Krisis." 
Schäffle führt dann weiter aus, daß die Unfähig- 
keit zur Zahlung immer vom mangelnden Absatz 
ausgehe; wenn die Konsumtion dem durch den 
Handel vermittelten Angebot der Produktion nicht 
mehr folge, so müsse der letzte Verkäufer entweder 
wohlfeiler verkaufen oder lagern, durch beides aber 
entstehe, wenn er nicht einen Schatz verfügbarer 
Mittel habe, Zahlungsunfähigkeit. Dieser Prozeß 
wirke durch die ganze Kette der Handelsvermitt- 
lung zurück auf den Produzenten, von da auf 
Arbeiter, Lieferanten, Gläubiger aller Art und 
lähme Konsumtionskraft und Konsumtionsmut. 
Man wird jedoch nicht bei diesem Erklärungs- 
versuche stehen bleiben dürfen, sondern fragen 
müssen, welche Ursachen den Mangel des Absatzes 
bewirkten. Diese können mannigfachster Art sein. 
So kann allerdings eine Überproduktion, ein allzu 
großer Vorrat für einen bestimmten Produ- 
zentenkreis die Ursache sein, ohne es gleichzeitig 
für einen andern zu werden; dasselbe gilt von 
Anderungen im Betriebe, z. B. billigerer Her- 
stellung infolge von Verbesserungen im Maschinen- 
wesen; ja auch die Abwendung der Mode ist ein 
nicht zu unterschätzender Faktor. Zu diesen und 
ähnlichen innern Gründen kommen dann noch die 
unendliche Zahl der äußern Gründe, z. B. Ande- 
rungen, die im Verkehrsleben entstehen und dem 
Konsum andere Bezugsquellen eröffnen oder ihn 
überhaupt stören, wie der Ausbruch eines Krieges. 
Verläßt man dies von Schäffle gewählte Demon- 
strationsgebiet des Handels, so wird man eben- 
falls immer eine Kette wirtschaftlicher Wechsel- 
Krisen. 
  
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beziehungen im Volksleben vor sich sehen, deren 
leichte Aufwindung ebenso auf die mannigfaltigste 
Art gestört werden kann, wodurch dann der Aus- 
bruch der Krisis herbeigeführt ist. Jeder Umstand, 
sagt Roscher, der plötzlich und stark die Konsum- 
tion vermindert, die Produktion vermehrt oder 
auch nur die gewohnte Ordnung des Verkehrs er- 
schüttert, kann eine Absatzkrise nach sich ziehen. 
Jede Eröffnung einer Eisenbahnstrecke oder Dampf- 
schiffahrt auf den Flüssen z. B. brachte und bringt 
eine Krisis für das Frachtgeschäft der betroffenen 
Gegend. Wo immer also eine jener Wechsel- 
beziehungen, ein Glied jener Kette ausgeschaltet 
wird, was auf tausenderlei Weise geschehen kann, 
entsteht eine je nach der Wichtigkeit dieses Gliedes 
kleine oder große Krisis. Die Aussichtslosigkeit 
des Versuches, den Ausbruch der Krisen aus einem 
bestimmten einzigen Prinzipe herleiten zu wollen, 
erläutert treffend die Tatsache, daß eine im Jahre 
1886 unternommene Untersuchung über die Ur- 
sachen der damals in Nordamerika herrschenden 
Krisis deren 180 ergab. Ein Eindringen in das 
Wesen der Krisen aus der Erkenntnis ihrer Ur- 
sachen wird demnach nur im Einzelfalle mög- 
lich sein. 
Auch was die volkswirtschaftlichen 
Wirkungen anlangt, gehen die Beurteilungen 
der Krisen auseinander. Für eine Anzahl nam- 
hafter nationalökonomischer Schriftsteller sind die 
Krisen nichts weiter, als was sie für Roscher sind: 
eine Schattenseite der höheren Kultur; oder für 
M. Wirth: „Die Krisen sind einem furchtbaren 
Gewitter zu vergleichen mit Blitz und Donner und 
Wolkenbrüchen, durch das Menschen erschlagen, 
Vorratsmagazine entzündet, blühende Gefilde 
überschwemmt, schreckliche Verluste an Vieh und 
Früchten herbeigeführt werden — aber welches im 
ganzen über die von ihm bestrichene Gegend einen 
befruchtenden Regen niedersendet.“ In der Krisis 
entladet sich „der Widerstreit aller Elemente des 
bürgerlichen Produktionsprozesses“. Zahlreiche 
und große Vermögensverluste treten in der Regel 
ein, von denen auch solche, welche an den Aus- 
bruchsursachen nicht beteiligt sind, mit den Schul- 
digen gleichmäßig betroffen werden. Ganze 
Länder können davon schwer betroffen werden. 
Durchaus notwendig ist übrigens eine unmittel- 
bare Schädigung des Volkswohlstands nicht damit 
verknüpft, indem wirkliche Werte dabei nicht zu 
Grunde gehen, sondern nur den Besitzer wechseln 
und der Verlust von imaginär gesteigerten Werten 
nicht unter allen Umständen eine Beeinträchtigung 
des Volksvermögens zu sein braucht. 
Was die Mittel anlangt, den Krisen vor- 
zubeugen oder ihre schädlichen Wirkungen 
wieder zu heilen, so ergibt sich als Konsequenz 
der sozialistischen Anschauung über die Ursachen 
der Krisen die planmäßige Reglung der Pro- 
duktion. Indessen dürfte diese nicht ausreichen; 
eine planmäßige Reglung der Konsumtion müßte 
hinzutreten. Auf demselben Gebiete der Pro-
	        
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