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lichen und sittlichen Kultur erhebt sich als dritte
ebenbürtige Macht die künstlerische Kultur, die,
aus dem ästhetischen Schaffensdrange geboren, die
erhabene Idee der Schönheit zu erfassen und
in den schönen Künsten der Dichtkunst, Malerei,
Musik, Skulptur und Architektur schöpferisch darzu-
stellen sucht. Selbst auf die Gebilde der materiellen
Kultur, wie im Kunsthandwerk und Kunstgewerbe,
wirft die Schönheit ihren verklärenden und ver-
geistigenden Schein und weiß den Gegenständen
des täglichen Hausgebrauches etwas von ihrem
eignen Zauber zur Verschönerung des mensch-
lichen Erdendaseins mitzuteilen. Eben darum
wollen nicht nur Theater und Konzerte, Elypto-
theken und Gemäldegalerien, Prachtbauten und
Kunstausstellungen, sondern auch Kunstgewerbe-
museen und andere Sammlungen der Bildung
des guten Geschmackes sowie der Freude am
Schönen förderlich sein.
3. Über den drei Gebieten der Wissenschaft,
Sittlichkeit und Schönheit wölbt sich endlich als
auf ebensovielen Tragbogen die religiöse
Kultur empor, welche aus dem tiessten und inner-
sten Grundtrieb des Gottesgedankens hervor-
sprießend, zugleich die schönste Blüte und oberste
Krone aller menschlichen Tätigkeit verkörpert und
in Kultstätten und Tempeln, Kathedralen und
Kapellen, Riten und Zeremonien, Dogmen und
Sittenvorschriften, Religionsvereinen und Kirchen-
bildungen ihren äußern Ausdruck findet. Die
Ausschaltung der Religion aus dem Begriff der
Kultur geht schon deshalb nicht an, weil die
sprachliche Verwandtschaft der beiden Ausdrücke
Kultus und Kultur ihren innern Zusammenhang
offen dartut. Zwar kann ohne Gottesverehrung
(colere Deum) eine hohe und selbst verfeinerte,
rein weltliche Kultur (colere terram) äußerlich
bestehen, wie zur Zeit der französischen Revolution,
aber der innern Vollendung und Lebenskraft ent-
behrend, sinkt sie notwendig zum verstümmelten
Torso hinab. Indem die heidnischen Religionen
ihren Einfluß auf den Schutz des Staates be-
schränkten, als dessen Schirmer die Götter galten,
vermochten sie auf die Sittlichkeit der Massen keine
merkliche Einwirkung auszuüben. Das vorchrist-
liche Judentum hat trotz seiner sonstigen Kultur-
armut mit seiner reinen und erhabenen Jahwe-
religion, die es inmitten des finstern Heidentums
wie eine helle Lampe mit dem unversieglichen Ol
der göttlichen Prophetie wunderbar nährte, der
Weltkultur einen größeren Dienst erwiesen als das
römische Kaiserreich, das eine blendende weltliche
Kultur mit abstoßendstem Götzendienst und gräß-
lichster Sittenlosigkeit verband. Nicht als ob den
Leistungen des Römerstaates jedweder Kulturwert
abgesprochen werden dürfte. Ruft doch bei ihrem
Anblick Augustinus voll Bewunderung aus: „Das
alles ist groß und durchaus dem Menschen an-
gemessen“ (De qduantitate animae c. 33, n. 72).
Aber eine rein weltliche Kultur, so hoch und wert-
vol sie an sich sei, bedeutet noch nicht den Gipfel-
Kultur.
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punkt aller menschlichen Bestrebungen, schon dar-
um nicht, weil dieselbe ohne Durchsäuerung mit
den sittlichen Ideen auf die Dauer keinen Bestand
haben kann, sondern über kurz oder lang dem
Untergang verfällt. Da aber die Sittlichkeit hin-
wieder ihren festesten Halt und ihre tiefste Be-
gründung in der Religion findet — eine „reli-
gionslose Moral“ ist ein Unding —, so folgt,
daß die Religion als höchster Kulturfaktor auf
alle Gebiete des menschlichen Schaffens wohltätig
zurückwirkt, überallhin ihren Segen verbreitet und
die ganze niedere wie höhere Kultur, so selbständig
sie an sich auch sein mag, zu ihrer eignen Höhe
emporzieht. „Der Beweis für diese überragende
Stellung der Religion“, sagt treffend A. Ehr-
hard (Kath. Christentum u. mod. Kultur 1/21906)
16) „liegt in der unleugbaren Tatsache, daß sie
Wissenschaft und Kunst in ihre Dienste zieht und
dem sittlichen, sozialen und ästhetischen Leben die
wirksamsten Impulse und die höchste Sanktion
gibt, mit einem Worte, durch ihre wesentliche Auf-
gabe als geistig-ethische Vereinigung mit Gott als
dem Urquell der Ideale des Wahren, Guten und
Schönen, diese Ideale selbst in die Sphäre des
Göttlichen hineinzieht und dadurch das Streben
nach ihrer Verwirklichung und die dadurch erzielte
Vervollkommnung des Humanitätsideals mit der
Anbetung und Verherrlichung Gottes zu einer
großen, einheitlichen, das ganze Leben der Mensch-
heit umfassenden Kulturtat zusammenschließt.“
Und in der Tat, das höchste und letzte Ziel aller
Kulturbestrebungen ist nicht lediglich der Nutzen,
die Veredlung und das Glück der Menschheit, son-
dern die Gottverherrlichung durch die Menschheit
und ihre Kulturschöpfungen als freie Verwirk-
lichung des göttlichen Weltplanes, der letzten
Endes in nichts anderem besteht als in der äußern
Glorie Gottes (vgl. J. Pohle, Lehrb. der Dog-
matik I/(19081 400 ff.
4. Wenngleich die Zivilisation (von
civis = Bürger, zivilisieren zum Bürger machen,
sittigen) vielfach mit Kultur synonym gebraucht
wird, ähnlich wie ihre beiden Gegensätze: Bar-
barei und Unkultur, so besteht doch in Wirklichkeit
zwischen ihnen ein begrifflicher Unterschied, der je-
doch nicht überall in gleichem Sinne durchgeführt
wird. Wohl abzulehnen ist diejenige Anschauung,
welche die sozialen und religiös-sittlichen Verhält-
nisse in den alleinigen Bereich der Zivilisation
ziehen möchte, wogegen die Gebiete der körper-
lichen Arbeit und des Verkehrswesens sowie der
Kunst und Wissenschaft unter den Begriff der
Kultur fallen sollen. Als zu enge dürfte auch die
Definition erscheinen, die K. Lamprecht aufstellt:
„Zivilisation bedeutet Herrschaft über die leblose
Natur und die organische Natur einschließlich der
bloßen, fremder Gewalt unterworfenen Phyfis des
Menschen durch äußere, technische Mittel; Kultur
bedeutet die spezifisch geistige Behauptung der Welt,
ist Religion, Kunst, Wissenschaft, insofern diese
der Weltanschauung zustrebt“ (s. „Hochland“ VI