Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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haften Historikers gehört, so spielen hingegen in 
die Lösung der beiden andern Probleme auch 
Fragen der Weltanschauung hinein, die von ver- 
schiedenen Forschern verschieden beantwortet werden 
und deshalb der Kulturgeschichtschreibung ein ent- 
schieden subjektives Kolorit ausprägen. Wer die 
sittliche Willensfreiheit des Menschen und das 
weise Walten der göttlichen Vorsehung als mit- 
bestimmende Kulturfaktoren leugnet, der sieht sich 
logisch genötigt, den ganzen Gang der Kultur- 
entwicklung auf rein naturgesetzliche Ursachen zu 
stellen und den Charakter und die Geschichte der 
Völker restlos aus Naturnotwendigkeiten zu er- 
klären. Wohl den unheilvollsten Einfluß hat der 
Darwinismus ausgeübt, der seinen Lehrsatz 
vom tierischen Ursprung des Menschen und vom 
Kampfe ums Dasein konsequent auf alle Kultur- 
erscheinungen übertrug. Indem er Sprache, Re- 
ligion, Sittlichkeit, Ehe, Staat usw. bereits im 
Vorstellungs= und Triebleben der Tiere grund- 
gelegt findet, läßt er alle menschlichen Einrich- 
tungen aus niedersten Ansätzen zu immer höheren 
Gestaltungen emporwachsen. Wie Recht und 
Sittlichkeit, Ehe und Religion in den angeblichen 
Kundgebungen der Hundemoral, so habe der 
Staat in der Vergesellschaftung der Tierkolonien 
und die Familie in der Monogamie gewisser Tiere 
ihr Vorbild. Das hypothetische Bild des halb- 
tierischen, rohen Urmenschen wird am liebsten am 
Maßstab der heutigen „Wilden“ gemessen, trotz- 
dem der vergleichenden Sprach= und Religions-= 
forschung jetzt immer mehr der Beweis gelingt, 
daß der niedrige Stand ihrer heutigen Religion 
ebenso auf eine religiöse Entartung, wie der 
Ideenreichtum und das grammatische Gefüge ihrer 
Sprache auf eine Blütezeit ehemaliger Kultur zu- 
rückweist. Die Zeit scheint nicht mehr fern, wo 
der besonnene Kulturhistoriker sich mit kräftiger 
Hand von solchen höchst unwissenschaftlichen Fesseln 
befreit und die gegebenen Wirkungen aufs das Maß 
adäquat hinreichender Ursachen zurückführt, was 
bei tieferem Zusehen nur in der theistisch-christ- 
lichen Weltanschauung auch rein wissenschaftlich 
möglich erscheint. Eine UÜbersicht über die Kultur- 
geschichte auch nur im Umriß zu geben, fällt 
außerhalb des Rahmens unserer Aufgabe, wes- 
halb in dieser Richtung auf Fachwerke verwiesen 
werden muß. Vgl. Lubbock, The Origin of Ci- 
vilisation and the Primitive Condition of 
Man (Lond.1902);v. Hellwald, Kulturgeschichte 
in ihrer natürlichen Entwicklung (: 1883). Lite- 
ratur der Kulturgeschichte s. bei J. Nikel, Allgem. 
Kulturgeschichte (21907) 13 f. 
2. Zur Erzeugung der Kultur sind teils in- 
dividuelle teils gesellschaftliche Triebkräfte 
tätig. Obgleich der Einzelmensch als Gesellschafts- 
wesen nur im Staatsverband ein menschenwürdiges 
Dasein fristet und ohne Einstellung in die Ge- 
meinschaft zu keiner Kulturleistung sich erschwingt, 
so gehen dennoch die großen und kleinen Anstöße 
zur Kulturentwicklung innerhalb der Gesellschaft 
Staatslexikon. III. 8. Aufl. 
Kultur. 
  
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in der Regel wieder von Individuen aus, um sich 
aus unzähligen Komponenten zu einer großen 
Kollektivwirkung zu summieren. Das gewaltige 
Triebrad der materiellen Kultur ist der angeborne 
Erhaltungstrieb oder das wirtschaftliche Bedürf- 
nis, zu dessen Befriedigung der Mensch für sich 
und seine Familie entweder selbst arbeiten oder 
fremder Arbeit sich bedienen muß. Dieser frem- 
den Arbeit kann man sich versichern entweder durch 
widerrechtlichen Raub der mit fremdem Schweiß 
erarbeiteten Wirtschaftsgüter, wie bei den alten 
Germanen, den mittelalterlichen Raubrittern und 
den neueren Riffpiraten, oder aber durch die Ein- 
richtung der Sklaverei, wie im antiken Römer- 
staat, diesem größten Sklavenstaat, den je die 
Welt gesehen. Im modernen Erwerbsleben wird 
die fremde Arbeit großenteils von der Maschine, 
also auf technischem Wege, besorgt. Die Seele 
der heutigen Wirtschaftsordnung ist der nimmer- 
satte Erwerbsgeist, der in den weitverzweigten 
Unternehmungen des Großkapitals wirklich Großes 
leistet, auf einen eigentlichen Kulturwert aber erst 
dann Anspruch hat, wenn bei der Produktions- 
ordnung und dem Güteraustausch die ewigen 
Prinzipien der Gerechtigkeit und Nächstenliebe 
nicht außer acht gelassen werden (vgl. G. Traub, 
Ethik u. Kapitalismus, Grundzüge einer Sozial- 
ethik /2 19081). Sowohl die wissenschaftliche als 
die künstlerische Kultur empfängt ihre Impulse 
vom Forschungs= und Schaffensdrang einzelner 
begabter Männer, deren Leistungen an dauerndem 
Werte für die Menschheit nichts einbüßen, wenn 
auch minder edle Motive (Gewinnsucht, Ruhmes- 
durst) ihre Taten inspiriert haben sollten; denn 
für den äußern Erfolg in der Welt kommt die 
innere Gesinnung weniger in Betracht. Wo aber 
neben den natürlichen auch religiöse Beweggründe 
zu einer wie immer gearteten Kulturarbeit be- 
geistern, wie bei Missionären, Barmherzigen 
Schwestern und zahllosen Laien, da erst erreicht 
die Kulturtätigkeit auch ihren höchsten innern 
Wert, weil die alles überstrahlende Gottes= und 
Nächstenliebe das äußere Werk mit ihrem innern 
Lichte durchgeistigt und verklärt. Große Kultur- 
perioden mit neuen Idealen sind niemals von den 
Volksmassen, sondern immer von einzelnen großen 
Männern eröffnet worden, deren Namen die 
Weltgeschichte mit Ehrfurcht nennt. Allerdings 
mußten auch sie ihre tatsächlichen Erfolge auf den 
begeisterten Widerhall gründen, den ihre Ideen 
in den breiten, auf das „Zeitgemäße“ hinreichend 
vorbereiteten Massen fanden. Vieles von dem, was 
verkannte, ihrer Zeit weit vorauseilende Genies 
schon längst ahnend erdacht und ausgesprochen 
hatten, wie z. B. der berühmte Mönch Roger 
Bacon (gest. 1294), hat erst die Neuzeit zur 
schöpferischen Tat umgesetzt, weil die alten Gedan- 
ken erst jetzt die lebhafteste Resonanz auch im Volke 
fanden. Wo die Kräfte des einzelnen versagen, 
da muß oft die Gesellschaft helfend eingreifen, 
um einerseits die Einheitlichkeit der Direktive 
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