545
haften Historikers gehört, so spielen hingegen in
die Lösung der beiden andern Probleme auch
Fragen der Weltanschauung hinein, die von ver-
schiedenen Forschern verschieden beantwortet werden
und deshalb der Kulturgeschichtschreibung ein ent-
schieden subjektives Kolorit ausprägen. Wer die
sittliche Willensfreiheit des Menschen und das
weise Walten der göttlichen Vorsehung als mit-
bestimmende Kulturfaktoren leugnet, der sieht sich
logisch genötigt, den ganzen Gang der Kultur-
entwicklung auf rein naturgesetzliche Ursachen zu
stellen und den Charakter und die Geschichte der
Völker restlos aus Naturnotwendigkeiten zu er-
klären. Wohl den unheilvollsten Einfluß hat der
Darwinismus ausgeübt, der seinen Lehrsatz
vom tierischen Ursprung des Menschen und vom
Kampfe ums Dasein konsequent auf alle Kultur-
erscheinungen übertrug. Indem er Sprache, Re-
ligion, Sittlichkeit, Ehe, Staat usw. bereits im
Vorstellungs= und Triebleben der Tiere grund-
gelegt findet, läßt er alle menschlichen Einrich-
tungen aus niedersten Ansätzen zu immer höheren
Gestaltungen emporwachsen. Wie Recht und
Sittlichkeit, Ehe und Religion in den angeblichen
Kundgebungen der Hundemoral, so habe der
Staat in der Vergesellschaftung der Tierkolonien
und die Familie in der Monogamie gewisser Tiere
ihr Vorbild. Das hypothetische Bild des halb-
tierischen, rohen Urmenschen wird am liebsten am
Maßstab der heutigen „Wilden“ gemessen, trotz-
dem der vergleichenden Sprach= und Religions-=
forschung jetzt immer mehr der Beweis gelingt,
daß der niedrige Stand ihrer heutigen Religion
ebenso auf eine religiöse Entartung, wie der
Ideenreichtum und das grammatische Gefüge ihrer
Sprache auf eine Blütezeit ehemaliger Kultur zu-
rückweist. Die Zeit scheint nicht mehr fern, wo
der besonnene Kulturhistoriker sich mit kräftiger
Hand von solchen höchst unwissenschaftlichen Fesseln
befreit und die gegebenen Wirkungen aufs das Maß
adäquat hinreichender Ursachen zurückführt, was
bei tieferem Zusehen nur in der theistisch-christ-
lichen Weltanschauung auch rein wissenschaftlich
möglich erscheint. Eine UÜbersicht über die Kultur-
geschichte auch nur im Umriß zu geben, fällt
außerhalb des Rahmens unserer Aufgabe, wes-
halb in dieser Richtung auf Fachwerke verwiesen
werden muß. Vgl. Lubbock, The Origin of Ci-
vilisation and the Primitive Condition of
Man (Lond.1902);v. Hellwald, Kulturgeschichte
in ihrer natürlichen Entwicklung (: 1883). Lite-
ratur der Kulturgeschichte s. bei J. Nikel, Allgem.
Kulturgeschichte (21907) 13 f.
2. Zur Erzeugung der Kultur sind teils in-
dividuelle teils gesellschaftliche Triebkräfte
tätig. Obgleich der Einzelmensch als Gesellschafts-
wesen nur im Staatsverband ein menschenwürdiges
Dasein fristet und ohne Einstellung in die Ge-
meinschaft zu keiner Kulturleistung sich erschwingt,
so gehen dennoch die großen und kleinen Anstöße
zur Kulturentwicklung innerhalb der Gesellschaft
Staatslexikon. III. 8. Aufl.
Kultur.
546
in der Regel wieder von Individuen aus, um sich
aus unzähligen Komponenten zu einer großen
Kollektivwirkung zu summieren. Das gewaltige
Triebrad der materiellen Kultur ist der angeborne
Erhaltungstrieb oder das wirtschaftliche Bedürf-
nis, zu dessen Befriedigung der Mensch für sich
und seine Familie entweder selbst arbeiten oder
fremder Arbeit sich bedienen muß. Dieser frem-
den Arbeit kann man sich versichern entweder durch
widerrechtlichen Raub der mit fremdem Schweiß
erarbeiteten Wirtschaftsgüter, wie bei den alten
Germanen, den mittelalterlichen Raubrittern und
den neueren Riffpiraten, oder aber durch die Ein-
richtung der Sklaverei, wie im antiken Römer-
staat, diesem größten Sklavenstaat, den je die
Welt gesehen. Im modernen Erwerbsleben wird
die fremde Arbeit großenteils von der Maschine,
also auf technischem Wege, besorgt. Die Seele
der heutigen Wirtschaftsordnung ist der nimmer-
satte Erwerbsgeist, der in den weitverzweigten
Unternehmungen des Großkapitals wirklich Großes
leistet, auf einen eigentlichen Kulturwert aber erst
dann Anspruch hat, wenn bei der Produktions-
ordnung und dem Güteraustausch die ewigen
Prinzipien der Gerechtigkeit und Nächstenliebe
nicht außer acht gelassen werden (vgl. G. Traub,
Ethik u. Kapitalismus, Grundzüge einer Sozial-
ethik /2 19081). Sowohl die wissenschaftliche als
die künstlerische Kultur empfängt ihre Impulse
vom Forschungs= und Schaffensdrang einzelner
begabter Männer, deren Leistungen an dauerndem
Werte für die Menschheit nichts einbüßen, wenn
auch minder edle Motive (Gewinnsucht, Ruhmes-
durst) ihre Taten inspiriert haben sollten; denn
für den äußern Erfolg in der Welt kommt die
innere Gesinnung weniger in Betracht. Wo aber
neben den natürlichen auch religiöse Beweggründe
zu einer wie immer gearteten Kulturarbeit be-
geistern, wie bei Missionären, Barmherzigen
Schwestern und zahllosen Laien, da erst erreicht
die Kulturtätigkeit auch ihren höchsten innern
Wert, weil die alles überstrahlende Gottes= und
Nächstenliebe das äußere Werk mit ihrem innern
Lichte durchgeistigt und verklärt. Große Kultur-
perioden mit neuen Idealen sind niemals von den
Volksmassen, sondern immer von einzelnen großen
Männern eröffnet worden, deren Namen die
Weltgeschichte mit Ehrfurcht nennt. Allerdings
mußten auch sie ihre tatsächlichen Erfolge auf den
begeisterten Widerhall gründen, den ihre Ideen
in den breiten, auf das „Zeitgemäße“ hinreichend
vorbereiteten Massen fanden. Vieles von dem, was
verkannte, ihrer Zeit weit vorauseilende Genies
schon längst ahnend erdacht und ausgesprochen
hatten, wie z. B. der berühmte Mönch Roger
Bacon (gest. 1294), hat erst die Neuzeit zur
schöpferischen Tat umgesetzt, weil die alten Gedan-
ken erst jetzt die lebhafteste Resonanz auch im Volke
fanden. Wo die Kräfte des einzelnen versagen,
da muß oft die Gesellschaft helfend eingreifen,
um einerseits die Einheitlichkeit der Direktive
18