Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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Woltmann, Politische Anthropologie (1903); 
H. St. Chamberlain, Die Grundlagen des 
19. Jahrh. (21901); Brooks Adams, The Law 
of Civilisation and Decay (Lond. 1907); W. 
Roscher, Politik. Geschichtliche Naturlehre der 
Monarchie, Aristokratie u. Demokratie (81908). 
III. Katholische Wektanschauung und Kul- 
fur. Unter Übergehung der vor= und außer- 
christlichen Kulturkreise, mit denen die katholische 
Kirche entweder in keine oder nur in lose Be- 
rührung kam, dürfen wir unsere Darlegungen um 
so mehr auf die europäische Kultur beschränken, 
als dieselbe in fast allen überseeischen Ländern ihre 
Ableger besitzt und heute immer mehr dem Inter- 
nationalismus zustrebt. Um zu zeigen, daß die 
Kirche aus ihrem innersten Wesen heraus sich als 
die größte Freundin und Förderin jeder wahren 
Kultur erweist, brauchen wir nur die einzelnen 
Kulturgebiete in ihren Beziehungen zum katholi- 
schen Christentum der Reihe nach durchzugehen. 
1. Auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Kultur 
hat man die Kulturscheu der Kirche mit dem Vor- 
wurf der Weltflucht, d. i. der Abgewandtheit 
von allem Irdischen, zu begründen versucht. Ja 
nach Sommerlad (Das Wirtschaftsprogramm der 
Kirche des Mittelalters F1903) 201 ff) soll die 
angebliche Lehre des hl. Augustinus, das Privat- 
eigentum sei eine Folge der Sünde und selbst in 
etwa fsündhaft, in dem „werkheiligen“ Almosen- 
gebot sowie in den freiwilligen Eigentumsent- 
äußerungen an die Kirche bis tief ins Mittelalter 
fortgewirkt haben (Widerlegung s. bei Mausbach 
#. a. O. 284 ff). Allein die Geringschätzung irdischer 
Schätze im Vergleich zu den himmlischen Gütern 
bedeutet keine Absage an die weltliche Kultur, 
sondern lediglich ihre wesentliche Unterordnung 
unter das sittliche und religiöse Ideal, insofern 
nach der ausdrücklichen Lehre Christi der Gewinn 
der ganzen Welt den Verlust der Seele nicht auf- 
zuwiegen vermag. An diesem Werturteil kann aber 
nur der sozialistische Atheismus Anstoß nehmen, 
dessen Wirtschaftsprogramm bekanntlich lautet: 
„Den Himmel überlassen wir den Spatzen, uns 
gehört die Erde.“ Die allen Christen und Theisten 
gemeinsame Jenseitshoffnung legt der irdischen 
Arbeit nicht nur keinen Hemmschuh an, sondern 
löst umgekehrt die stärksten Antriebe zur vollen 
Entfaltung der wirtschaftlichen Arbeitsenergie aus. 
Dern die ganze wirtschaftliche Kultur ruht zuletzt 
auf der körperlichen Arbeit, die niemals 
ganz durch die Maschine sich ersetzen oder ver- 
drängen läßt. Nun hat aber gerade das Christentum 
die Würde und den Segen der körperlichen Arbeit 
aus der heidnischen Verachtung befreit, nachdem 
selbst ein Aristoteles (Polit. 3, 38) jede Arbeit als 
„banausisch“ (ckravoog = Handwerker) und eines 
„freien Mannes unwürdig“ (chelebh# ) ver- 
pönt hatte. Jesus als Zimmermannssohn und 
Paulus als Zelttuchmacher — dieses eine über- 
wältigende Beispiel genügte, ganz abgesehen vom 
christlichen Arbeitsgebot, um dem geknechteten 
Kultur. 
  
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Arbeiterstande für immer Achtung und Würde zu 
erzwingen. Nach der Lehre der Kirchenväter ist die 
Arbeit nicht nur eine Buße und Arznei der Seele, 
sondern auch eine Schule der Heiligkeit und Gott- 
verherrlichung, eine Nachfolge Christi, ein Unter- 
pfand himmlischen Lohnes. Und gerade die ver- 
schrieenen Mönchsorden, in denen die „Weltflucht" 
sich am stärksten verkörpert, haben sich ganz mit 
dem von solchen Motiven getragenen Arbeitsgeist 
erfüllt und nach Ausweis der Geschichte als Kultur- 
pioniere auf allen Gebieten Großartiges geleistet. 
Wie die Basilianermönche im Osten, so haben im 
Westen zuerst die Benediktiner, später die Zister- 
zienser und Trappisten durch Ausrodung der Ur- 
wälder, Entwässerung und Bewässerung des Bo- 
dens, Einführung neuer Früchte und Kulturen, 
Straßen= und Brückenbau usw. überallhin Ge- 
sittung und Bildung verbreitet. Allerdings hat 
sich die Kirche auch von dem andern Extrem jener 
Arbeitsvergötterung jederzeit freigehalten, welche 
den weltlichen Beruf zum eigentlichen Gottesdienst 
erhebt, und das Leben des Christen in rastloser 
Jagd nach Erwerb völlig aufgehen läßt. Mag 
diese offenbare Überspannung des Wirtschafts- 
geistes den Beteiligten zwar einen finanziellen 
Vorsprung sichern, so hat sie dennoch vom ethi- 
schen wie kulturellen Standpunkt schwere Bedenken 
gegen sich. Denn nicht nur zieht die gänzliche Ver- 
sunkenheit ins weltliche Berufsleben das Herz von 
seiner Ewigkeitsbestimmung ab und reizt zu frag- 
würdigen Erwerbsgrundsätzen, sondern sie ge- 
fährdet auch die Ruhe und Stetigkeit des Kultur- 
fortschrittes selbst, dessen letztes Ziel und Ende doch 
nicht darin bestehen kann, daß die sich überhastende 
Kultur an ihrer eignen Unruhe zugrunde geht. 
Allerdings empfiehlt Ed. v. Hartmann, der „Phi- 
losoph des Unbewußten“, diese selbstmörderische 
Schnellkultur als das sicherste Mittel, um den 
Weltuntergang zu beschleunigen und das „Abso- 
lute“ von der Qual des Daseins zu erlösen. 
Von großer wirtschaftlicher Bedeutung ist das 
kirchliche Gebot strenger Sonntagsruhe, wel- 
ches nicht nur der religiösen Erhebung des Ge- 
mütes, sondern auch dem körperlichen Erholungs- 
bedürfnis dient. Wenn Zugvieh und Maschinen, 
um leistungsfähig zu bleiben, von Zeit zu Zeit 
Ruhe nötig haben, so darf die Schnelligkeit des 
Erwerbes und Reichwerdens erst recht nicht als 
Aushängeschild dienen, um die Kräfte des Ar- 
beiters bis zur Erschöpfung auszunutzen. Ver- 
chiedener Ansicht könnte man vielleicht über die 
wirtschaftliche Tragweite der vielen katholischen 
Feiertage sein, obschon auch hier der höhere Ge- 
winn an geistigem Wachstum mit den wirtschaft- 
lichen Nachteilen in inkommensurablem Verhältnis 
steht. Auch ist es noch sehr fraglich, ob die verderb- 
lichen Streiks und Arbeiteraussperrungen der 
Gegenwart nicht ungleich mehr Nationalvermögen 
verschlingen als die „Unzahl der Feiertage“, zu 
deren Verminderung die Kirche gerne die Hand 
bietet, wo die Not der Zeit es erheischt. Im 
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