Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

551 
Mittelalter war der Arbeiter trotz der vielen Ma- 
rien= und Heiligenfeste, auf welche die Gilden und 
Zünfte große Stücke hielten, jedenfalls glücklicher 
als heute, wo er unter der sozialdemokratischen 
Verhetzung aus seiner Unzufriedenheit nicht mehr 
herauskommt. Ob die Vielheit gebotener Feiertage 
insbesondere für die wirtschaftliche Rückständigkeit 
der deutschen Katholiken, die ja nicht viele Mil- 
lionäre in ihren Reihen zählen, verantwortlich zu 
machen ist, dürfte schwer festzustellen sein. Jeden- 
falls ist die Tatsache selbst zu beklagen; denn ohne 
Reichtum fehlt eine der Möglichkeiten, um auf 
die moderne Kultur im Geiste der katholischen 
Weltanschauung erfolgreich einzuwirken. Einen 
großen Teil der Schuld wird man zweifellos auf 
die Säkularisation der Kirchengüter abwälzen 
dürfen, welche mit der wirtschaftlichen Stellung 
der Kirche und der Klöster — wie eben jetzt wieder 
in Frankreich — auch die Katholiken dauernd 
schädigte und ihnen Vorteile und Gelegenheiten 
entzog, die der durch die „tote Hand“ reich ge- 
wordene Staat nunmehr andern zuwendete. Daß 
der Katholizismus als solcher nicht die Schuld 
trägt, beweist das unter katholischer Herrschaft zu 
riesiger Höhe emporgeblühte Belgien. Wäre übri- 
gens der Reichtum als Frucht des intensivsten 
Wirtschaftslebens zugleich das Kriterium höchster 
Kulturentfallung oder gar ein Beweis für die gött- 
liche Wahrheit einer bestimmten Konfession, so 
könnte man auch dem Protestantismus die Palme 
nicht zuerkennen, da erfahrungsgemäß das Juden- 
tum es ist, das mit höchstem Geschäftsfleiß auch 
den wirksamsten Wettbewerb mit Konkurrenten 
verbindet. Gewiß ist der aus Erbschaft oder ehr- 
licher Arbeit hervorgewachsene Reichtum, dessen 
sittlichen Charakter schon Augustinus gegen die 
hyperaszetischen Pelagianer warm verteidigte, ein 
schätzenswertes Gut. Aber oft ist er auch eine Ge- 
fahr und ein Übel, wenn er die ethischen und re- 
ligiösen Kulturwerte hintansetzt. Kann man zwar 
die veraltete Ubertreibung des belgischen National- 
ökonomen Ch. Périn: C'est le mépris de la 
richesse qdui engendre la richesse, nicht bil- 
ligen, so fördert doch die Kirche den allgemeinen 
Wohlstand dadurch, daß sie nicht nur den Müßig- 
gang verdammt und die Arbeit befiehlt, sondern 
auch die kostspielige Genußsucht und Verschwen- 
dung nicht minder als Laster brandmarkt wie die 
unersättliche Habsucht. 
Mit der vernünftigen Hochschätzung des Reich- 
tums darf nicht Hand in Hand gehen die Ver- 
achtung der Armut, dieser beständigen und un- 
ausrottbaren Begleiterscheinung jeder Kultur. Der 
Zusammenfluß des Kapitals in den Händen we- 
niger Ubermillionäre sowie die hiermit zusammen- 
hängende Aufsaugung des Mittelstandes ist nach 
dem Urteil der Volkswirtschaftslehrer eines der 
unerfreulichsten Symptome der modernen Kultur. 
Die Spannung zwischen Kapital und Arbeit hat 
das Proletariat geschaffen und eine Art Massen- 
armut erzeugt, die durch den Glanz technischer 
  
Kultur. 
  
552 
Erfindungen nicht verdeckt werden kann. Diese in 
ihrer ganzen Breite aufgerollte sog. soziale 
Frage hat die Welt in eine Krise hineingeführt, 
wie sie seit dem Beginn des Christentums in solcher 
Schärfe nicht mehr hervorgetreten war. Wäre die 
soziale Frage eine bloße „Magenfrage“ oder ein 
rein wirtschaftliches Problem, so könnte viel- 
leicht der arbeiterfreundliche Staat oder das hoch- 
sinnige Großkapital ihre Lösung allein herbeiführen. 
Weil aber auch sittlich = religiöse Momente mit 
hineinspielen, so kann man der Mithilfe der Kirche 
und der christlichen Konfessionen schlechterdings 
nicht entraten. Wie zur Zeit der Völkerwande- 
rung, so muß und wird auch jetzt das Heil von 
der Kirche kommen. Damals hat „die Kirche der 
Armen“ die Verachtung der Armut, dieses ingens 
vitium der alten Römer, in Verehrung für die 
Armut umgewandelt, die erste christliche Armen- 
pflege organisiert, Armenhäuser errichtet und den 
Reichen das Almosen zur Pflicht gemacht. Auch 
heute noch predigt sie im Gelübde freiwilliger 
Armut, das ihre Ordensgesellschaften ablegen, daß 
Armut keine Schande ist und niemand klein macht 
vor Gott. Ein Netz von Armen= und Waisen- 
häusern, Kranken- und Irrenanstalten, die unter 
Leitung werktätiger Orden stehen, überzieht die 
Länder, um Not und Elend zu lindern. Der un- 
ermeßliche Kultursegen, den die Befolger der 
„Evangelischen Räte“ auf der ganzen Erde ver- 
breiten, wiegt alle Tonnen Goldes auf, welche die 
Banken in ihren Tresors aufbewahren. Aber wäh- 
rend die Kirche das eine Auge liebevoll auf den 
Armen und Verlassenen ruhen läßt, erhebt sie das 
andere ermunternd und anfeuernd auf die Reichen 
und Großen, indem sie jeden wirtschaftlichen Fort- 
schritt und alle neuen Erfindungen lebhaft und 
freudig begrüßt. Unlängst hat noch Papst Leo XIII. 
in seiner Enzyklika Immortale Dei vom 1. Nov. 
1885 der Kirche das Zeugnis ausgestellt: Quibus 
in studiis non adversatur Ecclesia, si quid 
mens repererit novi: non repugnat quin plura 
duaerantur ad decus commoditatemque vitae: 
immo inertiae desidiaeque inimicamagnopere 
vult, ut hominum ingenia uberes ferant ex- 
ercitatione et cultura fructus (vgl. Denzinger- 
Bannwart, Enchirid. L1019087 n. 1879). Diese 
Worte atmen keine Kulturscheu, sondern Kultur- 
begeisterung. Vgl. Montalembert, Die Mönche 
des Abendlandes (1853); F. de Champagny, La 
charité chrétienne dans les premiers siecles 
de I’Eglise (Par. 1856); Ratzinger, Geschichte 
der kirchl. Armenpflege (1868); ders., Die Volks- 
wirtschaft u. ihre sittlichen Grundlagen (21895); 
F. Hitze, Kapital u. Arbeit (1880); H. Pesch S. J. 
Die soziale Befähigung der Kirche (21897); F. 
Walter, Sozialpolitik u. Moral (1899); A. Bigl- 
mair, Die Beteiligung der Christen am öffent- 
lichen Leben in vorkonstantinischer Zeit (1902); 
Biederlack S. J., Die soziale Frage ((1904); J. 
Mausbach, Kernfragenchristlicher Welt= u. Lebens- 
auffassung ((1905); J. Seipelt, Die wirtschafts-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.