Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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hause noch im Reichstage des Norddeutschen 
Bundes eine geschlossene Fraltion. Die sich scharf 
vordrängenden Militär= und Verfassungsfragen 
hatten die Notwendigkeit einer dauernden Sorge 
für die Wahrung der katholischen Interessen in 
den Hintergrund treten lassen. 
Auch das Verhältnis der Regierung zum Epi- 
skopat blieb ein durchaus freundliches. Als vor 
dem Kriege von 1866 König Wilhelm den Erz- 
bischof Melchers von Köln um seine Ansicht frug, 
konnte dieser in seinem Briefe vom 27. Mai offen- 
herzig von dem „Bruderkrieg“ abraten, ohne daß 
in der Antwort des Königs vom 4. Juni deshalb 
eine Gereiztheit durchgeklungen hätte. Als die 
italienische Regierung den Krieg von 1870 be- 
nutzte, um am 20. Sept. dem Papst die Stadt 
Rom, den letzten Rest seines Patrimoniums, zu 
rauben, wurden die Versuche des Erzbischofs von 
Posen - Gnesen Grafen Ledochowski im Nov. 
1870 sowie einer Deputation rheinisch-westfälischer 
und schlesischer Malteserritter im Febr. 1871, eine 
Intervention zugunsten des Papstes herbeizu- 
führen, vom Grafen Bismarck zwar zurückhaltend, 
vom Kaiser dagegen freundlich ausgenommen. 
Der Kaiser erklärte der erwähnten Deputation im 
Hauptquartier zu Versailles, „seine Gesinnungen 
für den Papst als das kirchliche Oberhaupt seiner 
katholischen Untertanen seien noch stets dieselben; 
er sehe in der Okkupation Roms einen Gewaltakt 
sowie eine Anmaßung von seiten Italiens und 
würde nach Beendigung des Krieges in Gemein- 
schaft mit andern Fürsten Schritte dagegen in 
Betracht ziehen“. Eine Wendung zeigte zuerst 
die Thronrede zur Eröffnung des ersten deutschen 
Reichstages am 21. März 1871, indem sie nicht 
— ein Eintreten für das Papsttum ab- 
ehnte. 
2. Die Feindseligkeiten gegen die katholische 
Kirche, aus denen der spätere „Kulturkampf“ er- 
wuchs, nahmen überhaupt ihren ursprünglichen 
Ausgang nicht aus den Kreisen der preußischen 
Regierung, sondern aus den Kreisen des gebildeten 
liberalen und protestantischen Bürger- 
tums. Der Aufschwung katholischen Lebens seit 
1848 begegnete sehr bald in protestantischen und 
liberalen Kreisen einem feindlichen Argwohn, 
welcher in dem auf den Staatsuniversitäten herr- 
schenden Doktrinarismus die reichste Nah- 
rung fand. Die Hegelsche Theorie von der un- 
umschränkten Staatsgewalt wurde auf den meisten 
Lehrstühlen vorgetragen. Die Zahl der Katholiken 
unter den Professoren war eine verschwindende. 
Üüber die allgemeine protestantische Abneigung 
gegen Rom hinaus ging eine breite Strömung 
tiefen Hasses gegen jegliches Kirchentum und jeg- 
lichen positiven Glauben. Die liberale Presse im 
Bunde mit dem liberalen Professorentum und der 
liberalen Bourgeoisie war die Trägerin dieser 
Richtung, welche bald auch im Abgeordnetenhause, 
zuerst vereinzelt, dann immer häufiger und un- 
duldsamer, sich geltend machte. 
  
Kulturkampf ufw. 
  
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3. Das Papsttum wurde zunächst das Ziel 
des Angriffs. Als die italienische Revolution im 
Jahre 1860 dem Papst den größten Teil des 
Kirchenstaates raubte, gab der im März 1860 
gegründete, auf die Einigung Deutschlands unter 
Preußen hinzielende „Nationalverein“ seiner Zu- 
stimmung offen Ausdruck: „Gleiches Bedürfnis 
und gleiches Interesse lassen die nationale Be- 
wegung mit warmer Teilnahme verfolgen.“ Die 
Führer der liberalen Opposition im Abgeordneten- 
hause trugen kein Bedenken, die „Hyder des Ultra- 
montanismus“ unverhohlen als den Feind zu 
bezeichnen, der „zertreten“ werden müsse. Eine 
Flut von Angriffen gegen Kirche und Papsttum 
erhob sich, als Papst Pius IX. zur Verteidigung 
der gesamten Stellung der Kirche gegen alle da- 
mals landläufigen Angriffe mit der Enzyklika 
Quanta cura vom 8. Dez. 1864 den vorwiegend 
gegen liberale Maximen gerichteten Syllabus 
errorum, eine Zusammenstellung der hauptsäch- 
lichsten Irrtümer der Zeit, veröffentlichte. Bald 
nachher wurde die Absicht des Papstes bekannt, 
ein allgemeines Konzil nach Rom zu berufen. 
Man erwartete, dasselbe werde die im Syllabus 
negativ hingestellten Sätze positiv formulieren. 
Außerdem verlautete, die alte katholische Lehre von 
der päpstlichen Unfehlbarkeit solle zum förmlichen 
Dogma erhoben werden. 
Das vatikanische Konzil wurde bald darauf 
berufen. Unter dem deutschen Episkopat erregte die 
beabsichtigte Dogmatisierung der lehramtlichen 
Unfehlbarkeit des Papstes Bedenken, namentlich 
aus Opportunitätsrücksichten, während eine An- 
zahl katholischer Universitätsprofessoren unter 
Führung der „Münchener Schule“ zu prinzipieller 
Opposition überging und das Laientum in den 
Kampf hineinzuziehen strebte. Nachdem jedoch der 
Versuch, die „Kölnischen Blätter“, die leitende ka- 
tholische Zeitung, in das Lager der Konzilsgegner 
hinüberzuführen, gescheitert war, blieb die Be- 
wegung ohne tiefere Einwirkung auf die Seelsorge- 
geistlichkeit und das katholische Volk. In der 
Diplomatie dagegen fand sie Unterstützung. Der 
bayrische Ministerpräsident Fürst Hohenlohe sandte 
am 9. April 1869 an die bayrischen Gesandten 
bei den europäischen Mächten eine Zirkulardepesche, 
nach welcher diese sich bemühen sollten, eine Koa- 
lition der europäischen Mächte gegen die bevor- 
stehende Kirchenversammlung ins Leben zu rufen, 
um im voraus „Verwahrung oder Protestation“ 
gegen die erwarteten Beschlüsse einzulegen; doch 
ohne Erfolg. Insbesondere verhielt sich der Kanzler 
des Norddeutschen Bundes, Graf Bismarck, wenn 
nicht geradezu ablehnend, so doch ausweichend. 
Am 18. Juli 1870 wurde das Dogma von 
der lehramtlichen Unfehlbarkeit des Papstes 
durch das Konzil feierlich verkündet, einen Tag, 
ehe die Kriegserklärung Frankreichs in Berlin 
übergeben wurde. Die deutschen Bischöfe belehrten 
alsbald nach ihrer Heimkehr durch einen gemein- 
samen Hirtenbrief aus Fulda ihre Diözesanen über
	        
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