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4. Die Gesamtheit dieser Anzeichen erzeugte bei
den Katholiken die bange Ahnung einer schlimmen
Zukunft, aber auch den festen Entschluß, dem an-
stürmenden Liberalismus gegenüber die Rechte der
Kirche tatkräftig zu verteidigen. Allenthalben
wurde die Notwendigkeit der Neuerrichtung einer
parlamentarischen Vertretung der katholischen
Interessen betont. Am 11. Juni 1870 hatte
„einer der hervorragendsten Führer der katho-
lischen Partei“ (Obertribunalsrat P. Reichens-
perger) in der „Kölnischen Volkszeitung“ einen
Aufruf erlassen, welcher zur Wahl katholischer Ab-
geordneten aufforderte und das erste Programm
für die spätere Zentrumspartei aufstellte. Gleiche
Richtung hatte das eingehendere Soester Pro-
gramm vom 28. Okt., welches auf einem Entwurf
beruhte, den ursprünglich der Abgeordnete v. Mal-
linckrodt verfaßt hatte, und der den Spruch an
die Spitze stellte: „Für Wahrheit, Recht und
Freiheit!“ Es betonte bereits neben den poli-
tischen und kirchenpolitischen auch die sozialpoliti-
schen Aufgaben der deutschen Katholiken. Ende
1870 bildete sich im Abgeordnetenhause
die „Fraktion des Zentrums“ mit dem
Programm, „für Aufrechterhaltung und organische
Fortentwicklung verfassungsmäßigen Rechts im
allgemeinen und insbesondere für die Freihlit und
Selbständigkeit der Kirche und ihrer Institutionen
einzutreten". 48 Mitglieder traten sofort der
neuen Fraktion bei. Während der Legislatur-
periode stieg die Zahl auf 54. Auch auf dem Ge-
biete der Presse begannen die Katholiken sich zu
rühren: seit dem 1. Jan. 1871 erschien die „Ger-
mania“ in Berlin.
Inzwischen war im französischen Krieg ein
großartiger Erfolg nach dem andern errungen
und am 18. Jan. 1871 das neue deutsche Kaiser-
reich in Versailles ausgerufen worden. Ein
deutscher Reichstag sollte mit der Reichs-
regierung, an deren Spitze der Reichskanzler Graf
(seit 22. März 1871 Fürst) Bismarck trat, die
Verfassung vereinbaren. Am 3. März 1871 fan-
den die Wahlen zu demselben statt. Sofort nach
Zusammentritt des Reichstags, am 21. März,
bildeten 67 katholische Abgeordnete auch hier eine
„Fraktion des Zentrums“ (s. d. Art.
Parteien, politische). Beide Fraktionen hatten
sich fest auf den Boden der altgegebenen und neu-
geschaffenen Verhältnisse gestellt und sich im Gegen-
satz zur früheren „katholischen Fraktion“ einen
rein politischen Charakter gegeben.
Sehr bald fand die neue Reichstagsfraktion
Gelegenheit, ihre Grundsätze zu betätigen. In
der Thronrede zur Eröffnung des Reichstags hatte
der Satz Aufnahme gefunden: „Die Achtung,
welche Deutschland für seine eigne Selbständigkeit
in Anspruch nimmt, zollt es bereitwillig der Un-
abhängigkeit aller andern Staaten und Völker,
der schwachen wie der starken.“ Der Entwurf
einer als Antwort auf die Thronrede vom Reichs-
tag zu erlassenden Adresse an den Kaiser, von
Kulturkampf ufw.
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dem Abgeordneten v. Bennigsen herrührend,
wurde deutlicher: „Die Tage der Einmischung in
das innere Leben der Völker werden, so hoffen
wir, unter keinem Vorwande und in keiner Form
wiederkehren.“ Die Umstände ließen keinen
Zweifel, daß mit dieser Wendung eine Stellung-
nahme gegen jede, auch bloß diplomatische, Ein-
mischung der Reichsregierung zugunsten des Pap-
stes, dem während des französischen Krieges von
der italienischen Regierung der Rest seines Patri-
moniums weggenommen worden war, beabsichtigt
wurde. Daher bekämpfte das Zentrum die Adresse
unter Vorlegung eines Gegenentwurfs, ohne je-
doch die Annahme einschließlich jenes Satzes ver-
hindern zu können. Der Kaiser nahm sie „mit
herzlichem Danke“ entgegen und „sfreute sich der
Gesinnung, welche der Reichstag ausdrückte"“; das
beweise ihm, „daß die Worte der Thronrede durch-
aus richtig begriffen“ worden seien. Als darauf
die Verfassung für das Deutsche Reich beraten
wurde, stellte die Fraktion des Zentrums den An-
trag auf ÜUbernahme der „grundrechtlichen“
Artikel der preußischen Verfassung und damit auch
der die Freiheit der Kirchen gewährleistenden
Art. 15 und 18 in die Reichsverfassung. Auch
dieser Antrag wurde von der Mehrheit verworfen.
Die Regierung beobachtete sowohl während der
Adreß= als während der Grundrechtsdebatte Still-
schweigen, obwohl ihr die Bildung des Zentrums
höchst ungelegen gekommen war. Sie hatte zu-
nächst versucht, den Papst selbst gegen dieses ein-
zunehmen. Am 17. April 1871 war der bay-
rische Gesandte und zeitweilige Geschäftsträger
des Deutschen Reichs in Rom, Graf Tauff-
kirchen, vom Reichskanzler Fürsten Bismarck be-
auftragt worden, die „wenig taktvolle Art, in der
die ungeschickt konstiturerte katholische Reichstags-
fraktion ihr aggressives Vorgehen gegen das neue
Reich und seine Regierung in Szene gesetzt hat“,
bei der Kurie zu erwähnen. Daraufhin be-
richtete Graf Tauffkirchen am 21. April, Kar-
dinal-Staatssekretär Antonelli habe erklärt, „daß
er die Haltung der katholischen sog. Zentrums-
fraktion im Reichstag als taktlos und unzeitgemäß
mißbillige und beklage“. Als in der Folgezeit die
Frage sich erhob, ob die Gesandten der Mächte in
Florenz dem König Viktor Emanuel nach Rom
folgen und dadurch Rom als die Hauptstadt des
„geeinigten Italiens“ anerkennen würden, benutzte
Fürst Bismarck die Lage, um am 22. Juni den
Grafen Tauffkirchen zu weiteren Klagen über die
„klerikale Partei“ anzuweisen — „welche durch
ihre Bestrebungen, die Autorität der Regierung
mit den Mitteln und dem Beistand der Revo-
lutionsparteien zu untergraben, die deutsche Reichs-
regierung zu Verteidigungsmaßregeln bewegen
kann“ —, um eine direkte Einwirkung der Kurie
auf das Zentrum zu erlangen. Antonelli wies
jedoch nach dem Berichte Tauffkirchens vom
23. Juni dieses Ansinnen entschieden zurück: „er
habe weder das Recht noch die Absicht, den