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Patron der Stelle oder in Ermanglung dessen die
Gemeinde durch Wahl wie nach dem vorstehenden
Gesetze die Stelle neu besetzen.
Auch der Reichstag wurde auf Veranlassung
der preußischen Regierung wiederum in Bewegung
gesetzt, und zwar diesmal zu dem unerhörtesten
Gesetz der gesamten Reichsgesetzgebung, nämlich
dem „Reichsacht“-oder Priesterausweisungs-
gesetz. Das „Reichsgesetz betreffend die Ver-
hinderung der unbefugten Ausübung von Kirchen-
ämtern“ vom 4. Mai 1874 bestimmt, daß einem
„durch gerichtliches Urteil aus seinem Amte ent-
lassenen“ Geistlichen (was nur in Preußen mög-
lich war) „durch Verfügung der Landespolizei-
behörde der Aufenthalt in bestimmten Bezirken
oder Orten versagt oder angewiesen“, derselbe auch
„durch Verfügung der Zentralbehörde seines Hei-
matsstaates seiner Staatsangehörigkeit verlustig
erklärt und aus dem Bundesgebiete ausgewiesen
werden“ kann. Gleiche Maßregeln werden an-
gedroht gegen Geistliche, welche wegen maigesetz
widriger Amtshandlungen verurteilt worden sind.
Gegen diese polizeilichen Verfügungen soll dem
Betroffenen Berufung an den kirchlichen Gerichts-
hof zustehen.
Doch auch diese zweite Reihe von Maigesetzen
verfehlte ihren Zweck. Sofort nach Bekannt-
werden des Entwurfs zum Gesetz vom 20. Mai
hatten sämtliche Domkapitel erklärt, die Wahl
eines Bistumsverwesers als Stellvertreter eines
„abgesetzten“ Bischofs werde in keinem Falle er-
folgen. Und so geschah es, obwohl nunmehr der
größte Teil der Bischöfe „abgesetzt“ wurde.
Die meisten der „abgesetzten“ Bischöfe hatten vor-
her längere Zeit im Gefängnis zugebracht: der
Erzbischof von Posen zwei Jahre, der Erzbischof
von Köln über sechs Monate. In den sämtlichen
betroffenen Diözesen traten staatliche Kommissare
für die bischöfliche Vermögensverwaltung, sog.
„Vermögensbischöfe“, ein. Die bischöfliche kirch-
liche Verwaltung wurde, soweit möglich, durch die
Bischöfe selbst, welche sich zu diesem Zweck ins
Ausland begaben, im übrigen durch bischöfliche
Geheimdelegaten fortgeführt. Diese fanden aus-
nahmslos den willigsten Gehorsam und wurden
trotz der eifrigsten gerichtlichen Maßnahmen nicht
verraten. In zahlreichen verwaisten Pfarreien
mußte eine Geheimseelsorge und schließlich sogar
Laiengottesdienst eingerichtet werden.
Die Haltung des Volkes blieb eine nicht
minder feste. Keine katholische Gemeinde hat von
der gesetzlichen Befugnis der Pfarrerwahl Ge-
brauch gemacht. Dagegen sind durch nichtkatho-
lische Patrone katholischer Pfarreien in Posen
und Schlesien eine Anzahl sog. „Staatspfarrer“
berufen worden, welche jedoch trotz aller behörd-
lichen Unterstützung von den Gemeinden vollstän-
dig gemieden wurden. Die politischen Führer
des Volkes hatten in den Parlamenten keine Ge-
legenheit zu eifrigster Verteidigung der Rechte der
Kirche vorübergehen lassen, ohne jedoch Gehör zu
Kulturkampf usw.
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finden. Am 26. Mai 1874 starb der edle Her-
mann v. Mallinckrodt. Seitdem trat Ludwig
Windthorst noch mehr in den Vordergrund
als der anerkannte Führer des Zentrums im
Reichstag und Landtag, ein Mann, der mit kirch-
licher Uberzeugungstreue eine seltene parlamenta-
rische Begabung verband und durch seine meister-
hafte Taktik unter geschickter Benutzung der Um-
stände das Zentrum im Reichstag schließlich zur
ausschlaggebenden Partei machte. Diese Stellung
des Zentrums im Reichstage benutzte er mit nicht
minderem Geschick, um auf die Angelegenheiten
des Abgeordnetenhauses hinüberzuwirken, so daß
Fürst Bismarck schließlich keinen andern Ausweg
mehr wußte, als in der preußischen Kulturkampfs-
gesetzgebung einzulenken.
Die Leidenschaftlichkeit des Kulturkampfes er-
reichte ihren Höhepunkt nach dem Attentat des
katholischen Böttchergesellen Kullmann auf den
Fürsten Bismarck zu Kissingen am 13. Juli 1874.
Obwohl der Attentäter nichts weniger als kirch-
lich gesinnt oder politisch im Sinne des Zentrums
hervorgetreten war, wurde die Zentrumspartei für
die Tat verantwortlich gemacht. Selbst Fürst Bis-
marck rief in der Reichstagssitzung vom 4. Dez.
1874 dem Zentrum zu: „Sie mögen sich lossagen
noch so viel, er hält sich an ihren Rockschößen fest.“
Verschärfte Maßregeln gegen den katholischen Kle-
rus, Presse und Vereine waren die Folge. Die
ohnehin nicht große Zahl katholischer Beamten in
der Staats= und Gemeindeverwaltung schmolzrasch
zusammen. Namentlich im Rheinland und West-
falen wurden eine Reihe katholischer Landräte zur
Disposition gestellt. Bei der Wahl überzeugungs-
treuer Katholiken zu kommunalen oder provinzialen
Amtern bildete die Nichtbestätigung seitens der
Regierung die Regel. Der Auskundschaftung der
kirchenpolitischen Gesinnung katholischer Beamten
zu denunziatorischen Zwecken widmete sich der
„Deutsche Verein“ in der Rheinprovinz unter dem
Vorsitz des Herrn v. Sybel.
Es war natürlich, daß solche Vorgänge eine
weitere Außerung der höchsten kirchlichen Autori-
tät zur Folge hatten. In der Enzyklika an den
preußischen Episkopat vom 5. Febr. 1875 erklärte
Pius IX die kirchenpolitischen Gesetze für „irri-
tas“, d. h. nichtig in sich, „weil sie der göttlichen
Einrichtung der Kirche schlechthin widersprechen“.
Mit unglaublicher Erbitterung bekämpften die
Gegner diese „direkte Aufforderung zur Revo-
lution“. Die katholischen Blätter druckten das
päpstliche Schreiben sofort ab. Sie wurden sämt-
lich mit Preßprozessen verfolgt. Die Gerichte ver-
hängten die verschiedensten Strafen, von einjähriger
Gefängnisstrafe (beim „Westfälischen Merkur")
bis zu geringen Geldstrafen; in mehreren Fällen
erfolgte auch Freisprechung.
Ioiges blieben Klerus und Volk, Presse und
Fraktion vollständig einig in Verteidigung der
Kirche. Nirgendwo zeigte sich der Regierung eine
Hoffnung auf Durchführung ihrer Gesetze. Wollte