Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

605 
wird mit meinem Willen auch nicht um ein Haar 
breit nachgegeben werden.“ Als auch die Thron- 
rede zur Eröffnung des Landtages am 14. Jan. 
1885 keine neue kirchenpolitische Vorlage ankün- 
digte, brachte der Abgeordnete Windthorst seine 
Anträge auf Aufhebung des Sperrgesetzes und 
Straffreiheit des Messelesens und Sakramente- 
spendens abermals ein. Am 22. April kamen sie 
zur Beratung; der erste wurde mit 182 gegen 128, 
der zweite mit 169 gegen 127 Stimmen ver- 
worfen; der Kultusminister hatte, ebenso wie 
Fürst Bismarck im Reichstag, den Mangel pöpst- 
licher Konzessionen betont. 
Die Verhandlungenmitder Kurie in 
dieser Zeit führten nur zu dem Ergebnis, daß der 
Kölner Erzstuhl neu besetzt wurde. Erzbischof 
Melchers hatte schon früher seine Bereitwilligkeit 
zur Resignation dem Papste erklärt. Nun nahm 
der Papst diese an und ernannte nach Überein- 
kunft mit der Regierung im Konsistorium vom 
30. Juli 1885 den Bischof Krementz von Erm- 
land, einen gebornen Koblenzer, zum Erzbischof 
von Köln. Erzbischof Melchers war schon am 
27. Juli zum Kardinal erhoben worden. Zum 
Nachfolger auf dem Ermländer Bischofsstuhl 
wurde nach längeren Unterhandlungen erst am 
15. Dez. vom Domkapitel der dortige General- 
vikar Dr Thiel gewählt, nachdem die Zweifel über 
die Anwendbarkeit der Bestimmungen der-Bulle 
De salute animarum auf diesen Fall der Er- 
ledigung eines Bischofsstuhles durch Translation 
des Bischofs zugunsten dieser Bestimmungen er- 
ledigt worden waren. Dagegen wurde die Neu- 
besetzung der Posen-Gnesener Erzdizese nicht er- 
reicht, obwohl Kardinal Ledochowski schon im 
März 1884 vom Papste zum Sekretär des Bitt- 
schriftenamtes mit Residenzpflicht in Rom ernannt 
worden war. Die Regierung bestand nämlich auf 
einem deutschen Kandidaten, während die Kurie 
im kirchlichen Interesse einen Erzbischof polnischer 
Abstammung für unumgänglich hielt. 
Neue Hoffnungen für die Regierung knüpften 
sich an einen Studienerlaß des Paderborner 
Generalvikariates vom 17. Febr. 1885, 
welcher die Kandidaten des Priesterstandes daran 
erinnerte, daß sie während des Besuches ihrer 
theologischen und philosophischen Vorlesungen 
auch Vorlesungen aus dem Gebiete der Geschichte 
und deutschen Literatur zu hören und ein beson- 
deres „Zeugnis über den Fleiß im Besuche dieser 
Vorlesungen“ zu erbitten hätten. Der Erlaß schloß 
sich also an die Bestimmungen der Novelle von 
1882 an, welche vom Papste nicht akzeptiert 
waren; auch erschien das gesonderte Vorgehen 
einer einzelnen bischöflichen Behörde in einer der- 
artigen grundsätzlichen Frage, über welche zwischen 
Regierung und Kurie verhandelt wurde, unzu- 
lässig. Es machten sich daher lebhafte Bedenken 
gegen den Erlaß geltend. Am 15. Juli wurde er 
auf Weisung des päpstlichen Stuhles zurück- 
gezogen, und die Konferenz der preußischen Bi- 
Kulturkampf ufw. 
  
606 
schöfe zu Fulda vom 4. Aug. eröffnete allen Stu- 
dierenden der Theologie, daß die Einholung der 
sog. „Fleißzeugnisse“ bei kanonischer Strafe der 
Unfähigkeit zum Empfang der heiligen Weihen 
nicht gestattet sei. Die „Neue Preußische (Kreuz-) 
Zeitung“ hatte an den Erlaß in offiziösen Ar- 
tikeln ein ganzes Programm geknüpft, wie durch 
nachsichtige und leutselige Handhabung der Mai- 
gesetze ein modus vivendi in ihrem Sinne her- 
gestellt, d. h. die Maigesetze allmählich zur Geltung 
gebracht werden könnten. Doch fand diese „Ver- 
sumpfungspolitik“ in katholischen Kreisen unaus- 
gesetzt den nachdrücklichsten Widerstand und trug 
wesentlich dazu bei, bei den im Oktober 1885 
stattfindenden Neuwahlen zum Abgeordneten- 
hause die Katholiken zur beharrlichsten Geltend- 
machung ihrer Forderungen zu veranlassen, um 
so mehr, als die Regierung mit verstärktem Nach- 
druck auf das Zustandekommen einer ihr unbedingt 
ergebenen „Mittelpartei“ hinarbeitete, um so vom 
Zentrum und den selbständigen Konservativen un- 
abhängig zu werden. Das Zentrum behauptete 
sich mit 97 Mitgliedern und 2 Hospitanten wie- 
der glänzend; aber das Zustandekommen einer 
Mehrheit der Mittelparteien hatte nicht verhindert 
werden können. Im Reichstag dagegen, wo die 
Wahlen von 1884 dem Zentrum 99 Mitglieder 
und 10 Hospitanten gebracht hatten, blieb seine 
Stellung die gleiche. 
IV. Herstellung eines modus vivendi. 
1. Durch das Zustandekommen der Mittelpartei 
im Abgeordnetenhause wurde das Ver- 
hältnis der Regierung und insbesondere des 
Fürsten Bismarck zum Reichstage, in welchem 
die Opposition die Oberhand behauptete, ein 
immer gespannteres. Fürst Bismarck spielte das 
Abgeordnetenhaus rücksichtslos gegen den Reichs- 
tag aus, jedoch ohne Erfolg, da der maßvolle Ge- 
brauch, den die Mehrheit des Reichstages unter 
Führung des Abgeordneten Windthorst von ihrer 
Stellung machte, dem Reichstage die Zustimmung 
der öffentlichen Meinung sicherte. Die wichtigsten 
neuen Gesetze, wie das Krankenversicherungsgesetz, 
die Zolltarifnovelle, das Börsensteuergesetz und 
das von dem Zentrumsabgeordneten Freiherrn 
v. Huene beantragte Verwendungsgesetz, waren 
nur durch die ausschlaggebende Mitwirkung des 
Zentrums zustande gekommen. Das Unfall- 
versicherungsgesetz wurde zweimal abgelehnt und 
erst angenommen, nachdem die Regierung die von 
dem Zentrum als notwendig bezeichneten Ab- 
änderungen hatte eintreten lassen. Auf der andern 
Seite waren, stets wesentlich durch die Stellung- 
nahme des Zentrums, das Tabakmonopol und 
mehrere andere Steuerprojekte der Regierung ab- 
gelehnt worden, ebenso die von der Regierung 
verlangte Beratung eines zweijährigen statt des 
bisherigen einjährigen Etats und die Etatsposition 
für den als Gegengewicht gegen den Reichstag er- 
richteten Volkswirtschaftsrat. Der fast dreijährige 
Stillstand in der Abänderung der Maigesetze
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.