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Solche Verbitterung in Verbindung mit dem Ver-
zicht auf jede priesterliche Funktion und der leicht
hingeworfenen Bemerkung, „er habe Zweifel an
mehreren Wahrheiten des Katholizismus“, deuteten
auf den bereits innerlich vollzogenen Abfall.
Zu einer Zeit, wo er noch die nicht endenden
Glückwünsche wegen des Aktes vom 11. Dez. ent-
gegenzunehmen nicht aufhörte, bereitete er, durch
keine innere Schranke mehr zurückgehalten, jene
Kriegserklärung gegen den Papst und die Kirche
vor, die ihn für kurze Zeit zum Abgott der euro-
päischen Revolution machen sollte. Ende März
oder Anfang April 1834 übergab er Sainte-
Beuve ein Manufkript mit der Weisung: „Es muß
jetzt ein Ende nehmen!“ und beauftragte ihn mit
der schleunigsten Drucklegung: es waren die Paroles
d'un eroyant, ein Buch, „klein an Umfang, aber
ungeheuerlich an Bosheit“ (Gregor XVI.), eine
Verherrlichung der Revolution, uner-
hört in Form und Inhalt. In gehobener Sprache,
überreich an poetischen, an Dante erinnernden Bil-
dern, biblischen, apokalyptischen Visionen, bald
träumerisch mild, bald hart und düster, bald wild
und drohend wirft sich in dieser Schrift Lamennais
wie ein von Gott beauftragter Prophet als Pre-
diger der Universalrevolution auf unter Mißbrauch
der Schriftworte, der Liturgie, der Gebete der
Kirche. Unter ungeheurer Zustimmung der revo-
lutionären Klubs, über hundertmal aufgelegt, in
alle europäischen Sprachen übersetzt, in Deutsch-
land von Börne (Hamburg 1834) als das „Hohe-
lied der Revolution“ begrüßt, weckte das Buch die
wilden antichristlichen Instinkte der Revolution
allseits und so mächtig, daß diese heute noch an
dem Erbe Lamennais' zehrt. Die Könige sind
nach Lamennais Kinder der Sünde; ihre Macht
haben sie von der Zwietracht der Völker, durch
die Mitschuld der Propheten (der Kirche), durch 1
die Verderbnis der Priester. Das Haupt der-
selben, der Greis, spricht von Gerechtigkeit und
verschenkt die Nationen an die Könige wie Vieh-
herden; er, dessen Tochter sich die große Prosti-
tuierte (Rom) nennt, ist der Mann des Schreckens,
selbst vom Schrecken vor den Königen gelähmt.
Damit war die Kirche den Völkern als feile Sklavin
und als feige Mitschuldige an ihrer Knechtung
denunziert. In den Volksmassen selbst sieht La-
mennais nur Opfer, die wahren Kinder Christi,
Christus selbst, jetzt aufs neue durch die Mitschuld
der Kirche wie ehedem durch den Haß der Syn-
agoge ans Kreuz geschlagen. Eine klare, bestimmte
Schlußfolgerung, wenn man von der ganz all-
gemeinen Aufforderung des Volkes zur Einigkeit
absieht, war nicht ausgesprochen.
Schon am 24. Juni 1834 verurteilte Gre-
gor XVI. in der Enzyklika Singulari nos die
Paroles, ihre Lehren und das philosophische Sy-
stem Lamennais' in hochbedeutsamer, das Leben
und die Lehre der Kirche scharf kennzeichnender
Weise. Die Antwort Lamennais', Affaires de
Rome (1836), der Form nach eine kalte, be-
Lamennais.
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rechnende Selbstverherrlichung, die nur schlecht
„jene stumme, unbeugsame Verachtung des Un-
glücks der Kirche“ verdeckte, „um sie mit unver-
söhnlicher Geschicklichkeit des letzten Restes der
Glorie zu berauben“ (Lacordaire). Er habe der
Kirche, führt Lamennais aus, ihre neue Mission
gezeigt, ihre Führerrolle in der allgemeinen Er-
hebung der Demokratie; sie habe sich geweigert,
dieser unwiderstehlichen Gewalt zu folgen; sie sei
dem Untergange, den er angekündigt, verfallen.
Damit war der Mann, welcher der individuellen
Vernunft die Gewißheit der Wahrheitserkenntnis
abgesprochen hatte, um der Autorität der Kirche
seine Vernunft entgegenzustellen, ein Sklave der
demokratisch-revolutionären Richtung geworden,
die ihn nicht mehr losließ.
Noch fast zwanzig Jahre schenkte ihm die Vor-
sehung, voll von herben Lebensschicksalen, die zur
Umkehr mahnten, harte Jahre voll Traurigkeit,
Demütigungen, Unfruchtbarkeit, haßvollen Wütens
gegen sich und seine Vergangenheit, immer tieferen
Falles. Sie begannen mit den aus dem Ste-
Pélagie-Gefängnis (10. April 1841) datierten
Discussions critiques et pensees diverses en
matière de religion und ihren grundstürzenden
Angriffen auf die Kirche, auf die verdorbene
Hierarchie, die feile Verbündete der Tyrannei, die
geborne Verfolgerin ihrer wahren Freunde, jetzt
vom Volke verlassen, ohnmächtig. In dem fana-
tischen Jubel über diese fortgesetzte Beschimpfung
der Kirche von seiten der atheistischen radikalen
Revolution hatten sich die Führer derselben, Ler-
minier, George Sand, Pierre Leroux, namentlich
der Chansonnier Beranger ihm angefreundet, um
ihn als ihren Mann gegen die Kirche zu miß-
brauchen, dann zu beschimpfen und fallen zu lassen.
Für sie und ihre Zwecke schrieb er 1837 das
ivre du peuple, eine verwässerte Kopie der
Paroles; dann neben einer Reihe von politischen
Pamphleten, immer in derselben Richtung, nur
stets antichristlicher, 1843 Les Amschaspands
et les Darwands, eine im Gewande der persischen
Symbolik des Kampfes der guten und bösen Gei-
ster geschriebene Aufreizung des Volkes gegen die
in wüsten Orgien sich sättigende Bourgeoisie des
Julikönigtums. Die Februarrevolution schien ihn
seinen Zielen näher zu bringen. Allein weder die
Herausgabe des radikalen Blattes Le peuble
constituant — es ging schon nach vier Monaten
(11. Juli 1848) wegen mangelnder Kautions-
gelder ein — noch das in Führung der Berg-
partei verfaßte Verfassungsprojekt, das kaum
Beachtung fand, konnten ihm den Ekel an der
blindwütigen Politik des sozialen Radikalismus,
dem er als noch „zu christlich“ galt, benehmen.
Auch die Rückwendung zu den Arbeiten der besseren
Zeit von La Chesnaie in der Esquisse d’une
Philosophie (4 Bde, 1841/46) ließ ihn den
rechten Weg nicht mehr finden; er machte aus der
katholischen Philosophie einen Pantheismus, der
alle übernatürliche Ordnung, jede positive Reli-