Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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gion leugnet. In der 1846 veröffentlichten Evan- 
gelienübersetzung: Les Evangiles, traduction 
nouvelle, avec des notes et des réflexions 
à la fin de chaque chapitre, scheute er vor dem 
positiven Zweifel an Christi Lehre nicht mehr 
zurück: nicht die christlichen Dogmen, sondern 
Gedankenfreiheit, den Sieg der menschheitlichen 
Vernunft habe Christus gebracht; die übernatür- 
liche Ordnung sei „#entgegengesetzt den wesentlichen 
Gesetzen Gottes und der Schöpfung“. Arm bis 
zur Notdurft, verlassen von allen, auch seinen 
letzten Freunden, lebte er von dem Ertrage früher 
verfaßter Erbauungsschriften und der Unterstützung 
früherer Freunde. Uber sein inneres Elend suchte 
er sich durch Versuche von Selbstrechtfertigung und 
Klagen bitterster Enttäuschung hinwegzuhelfen. 
Dieletzten Ubungen des früheren christlichen Lebens 
hatte er aufgegeben; die vielen Versuche der An- 
näherung seitens der besten seiner alten Freunde 
hatte er schroff von sich gewiesen. In diesen Ge- 
sinnungen starb er den 27. Febr. 1854 zu Paris, 
ohne Aussöhnung mit der Kirche; er wurde im 
Anzuge und Wagen der untersten Armenklasse in 
Eile unter polizeilicher Uberwachung der Straßen 
nach dem Kirchhofe Pere la Chaise gebracht und 
dort in den Fosses communes unter Zurück- 
weisung jedes christlichen Abzeichens begraben. 
Warum ist Lamennais' Andenken nach dem 
Tode ein so schwankendes, so verschiedenartig 
beurteiltes bis heute geblieben? Während seine 
früheren Freunde im Hinblick auf die der Kirche 
und der Religion geleisteten Dienste, seine un- 
glückliche Erziehung, seine traurigen Lebensschick- 
sale ihn nicht preisgeben mochten, haben die 
Freunde der späteren Stunde nicht aufgehört, für 
ihre Ideen von Christentum und Politik sein An- 
denken auszubeuten als des Vertreters eines frei- 
geistigen Katholizismus (die Erben seines lite- 
rarischen Nachlasses Blaize, Forgues), der revo- 
lutionären Bourgeoisie (Bérenger, Peyrat), des 
liberalen Republikanismus (Renan, Spuller), der 
sozialistischen Demokratie (Comte, Sainte-Beuve). 
Erklärt sich dies einerseits aus dem unbestimmten, 
leicht ausdeutungsfähigen Charakter seines Doktri- 
narismus, der bis zuletzt jede positive Stellung- 
nahme zu den Forderungen einer politischen Partei 
ablehnte, so anderseits aus der Überlegenheit seiner 
an klassischer Schönheit so reichen Sprache, aus 
der radikalen Behandlung der Zeitideen, besonders 
aus der antichristlichen Entwicklung der Politik, 
für deren „Evolution“ gegen die Kirche er die 
besten Waffen bot. Richtig ist, daß Lamennais 
das große Problem der revolutionären Politik 
Frankreichs nicht im Sinne der Katholiken, d. i. 
in der freiheitlichen Selbstorganisation der fran- 
zösischen Volkskräfte, sondern der Revolution, d. i. 
des demokratischen Liberalismus zu lösen suchte, 
daß sein anfänglicher Standpunkt einer Aussöh= 
nung der Kirche mit der Revolution noch lange 
einzelne seiner Schüler illusionierte, daß sein 
vollendeter Übertritt zu der J. J. Rousseauschen 
Lamennais. 
  
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Gesellschaftsidee ihn bis zur Leugnung der über- 
natürlichen Offenbarung, zum rückhaltlosen Skepti- 
zismus, zu jener sozialistischen Gleichmacherei 
führte, in der die liberalen Epigonen der Revo- 
lution ihr treues Spiegelbild fanden und liebten. 
Irrig und aller historischen Forschung wider- 
sprechend ist die Anschauung, bei Lamennais liege 
die regelrechte, notwendige und von der Zeitent- 
wicklung gebotene „Evolution der katholischen 
Idee“ vor. Nicht um eine „Evolution“, sondern. 
um eine Revolution handelt es sich hier, d. h. um 
einen schroffen, im Widerspruch mit dem früheren 
Leben und Denken fast jähen Ubergang von der 
absolutistischen zur demokratischen, von der katho- 
lischen zur liberalen Idee, begründet in seiner un- 
glücklichen zwiespältigen Erziehung, seinen mangel- 
haften, stets planlosen theologischen wie philo- 
sophischen Studien, seiner ungestümen Leiden- 
schaftlichkeit, die in eigensinniger Schwäche bei 
Widerspruch, in haktloser Selbstüberschätzung bei 
seinen Erfolgen ihn ungelehrig, unbändig bis zur 
Apostasie machten. Zwischen dem an die Spitze 
der katholischen Restauration tretenden Apologeten 
und dem ein Menschenalter später zur Auflehnung 
gegen Thron und Altar rufenden Demagogen 
gähnt ein Abgrund. 
Der unglücklichste Erklärungsversuch des Pro- 
blems Lamennais ist, ihn dem Sozialismus 
im heutigen Sinne zuzuweisen oder gar mit dem 
Begriffe des „christlichen“ Sozialismus seine Lehre 
abzutun. Als Lamennais in den Discussions 
critiques, dann in den kleinen, wenig Aufsehen 
erregenden Schriften Du Passé et de I Avenir 
du peuple (1841), Une voix de prison (1846) 
sich in derb abweisender Kritik mit den sozialisti- 
schen Systemen seiner Zeit, dem Kommunismus 
Robert Owens, den Theorien Saint-Simons und 
Ch. Fouriers befaßte, geschah es in der früher 
eingeschlagenen humanitären Richtung (Livre du 
peuple (18381; Politique à l’usage du peuple 
83 Del’Esclavage moderne (18391), von 
der er auch in der Agitation von 1848 (Projet 
d’unc constitution du crédit social; Question 
du travail; De la Famille et de la Propriéte) 
nicht abwich. Der Sozialismus Lamennais' blieb 
ein humanitäres Phantasiegebilde ohne positive 
Forderungen und ohne Rücksicht auf die soziali- 
stische Parteibildung. Wir gehen, träumte er, 
einer großen Ara neuer demokratischer Selbst- 
organisation entgegen, in welcher der säkulare 
Interessenstreit in allgemeiner Gleichheit und 
Brüderlichkeit sich lösen wird. Lamennais war 
kein kollektivistischer, noch weniger ein „christlicher" 
Sozialist; man rechne ihn allenfalls als Gleich- 
heitsfanatiker à la Rousseau zu den utopistischen 
Sozialisten. 
Wer die wirkliche Bedeutung Lamennais' 
verstehen will, und sie ist eine außergewöhnliche, 
über sein Jahrhundert hinausreichende, muß die 
Ursprünge, die Prinzipien, die Persönlichkeiten, 
die Werke der Lamennaisschen Schule, die Pro-
	        
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