665
gion leugnet. In der 1846 veröffentlichten Evan-
gelienübersetzung: Les Evangiles, traduction
nouvelle, avec des notes et des réflexions
à la fin de chaque chapitre, scheute er vor dem
positiven Zweifel an Christi Lehre nicht mehr
zurück: nicht die christlichen Dogmen, sondern
Gedankenfreiheit, den Sieg der menschheitlichen
Vernunft habe Christus gebracht; die übernatür-
liche Ordnung sei „#entgegengesetzt den wesentlichen
Gesetzen Gottes und der Schöpfung“. Arm bis
zur Notdurft, verlassen von allen, auch seinen
letzten Freunden, lebte er von dem Ertrage früher
verfaßter Erbauungsschriften und der Unterstützung
früherer Freunde. Uber sein inneres Elend suchte
er sich durch Versuche von Selbstrechtfertigung und
Klagen bitterster Enttäuschung hinwegzuhelfen.
Dieletzten Ubungen des früheren christlichen Lebens
hatte er aufgegeben; die vielen Versuche der An-
näherung seitens der besten seiner alten Freunde
hatte er schroff von sich gewiesen. In diesen Ge-
sinnungen starb er den 27. Febr. 1854 zu Paris,
ohne Aussöhnung mit der Kirche; er wurde im
Anzuge und Wagen der untersten Armenklasse in
Eile unter polizeilicher Uberwachung der Straßen
nach dem Kirchhofe Pere la Chaise gebracht und
dort in den Fosses communes unter Zurück-
weisung jedes christlichen Abzeichens begraben.
Warum ist Lamennais' Andenken nach dem
Tode ein so schwankendes, so verschiedenartig
beurteiltes bis heute geblieben? Während seine
früheren Freunde im Hinblick auf die der Kirche
und der Religion geleisteten Dienste, seine un-
glückliche Erziehung, seine traurigen Lebensschick-
sale ihn nicht preisgeben mochten, haben die
Freunde der späteren Stunde nicht aufgehört, für
ihre Ideen von Christentum und Politik sein An-
denken auszubeuten als des Vertreters eines frei-
geistigen Katholizismus (die Erben seines lite-
rarischen Nachlasses Blaize, Forgues), der revo-
lutionären Bourgeoisie (Bérenger, Peyrat), des
liberalen Republikanismus (Renan, Spuller), der
sozialistischen Demokratie (Comte, Sainte-Beuve).
Erklärt sich dies einerseits aus dem unbestimmten,
leicht ausdeutungsfähigen Charakter seines Doktri-
narismus, der bis zuletzt jede positive Stellung-
nahme zu den Forderungen einer politischen Partei
ablehnte, so anderseits aus der Überlegenheit seiner
an klassischer Schönheit so reichen Sprache, aus
der radikalen Behandlung der Zeitideen, besonders
aus der antichristlichen Entwicklung der Politik,
für deren „Evolution“ gegen die Kirche er die
besten Waffen bot. Richtig ist, daß Lamennais
das große Problem der revolutionären Politik
Frankreichs nicht im Sinne der Katholiken, d. i.
in der freiheitlichen Selbstorganisation der fran-
zösischen Volkskräfte, sondern der Revolution, d. i.
des demokratischen Liberalismus zu lösen suchte,
daß sein anfänglicher Standpunkt einer Aussöh=
nung der Kirche mit der Revolution noch lange
einzelne seiner Schüler illusionierte, daß sein
vollendeter Übertritt zu der J. J. Rousseauschen
Lamennais.
666
Gesellschaftsidee ihn bis zur Leugnung der über-
natürlichen Offenbarung, zum rückhaltlosen Skepti-
zismus, zu jener sozialistischen Gleichmacherei
führte, in der die liberalen Epigonen der Revo-
lution ihr treues Spiegelbild fanden und liebten.
Irrig und aller historischen Forschung wider-
sprechend ist die Anschauung, bei Lamennais liege
die regelrechte, notwendige und von der Zeitent-
wicklung gebotene „Evolution der katholischen
Idee“ vor. Nicht um eine „Evolution“, sondern.
um eine Revolution handelt es sich hier, d. h. um
einen schroffen, im Widerspruch mit dem früheren
Leben und Denken fast jähen Ubergang von der
absolutistischen zur demokratischen, von der katho-
lischen zur liberalen Idee, begründet in seiner un-
glücklichen zwiespältigen Erziehung, seinen mangel-
haften, stets planlosen theologischen wie philo-
sophischen Studien, seiner ungestümen Leiden-
schaftlichkeit, die in eigensinniger Schwäche bei
Widerspruch, in haktloser Selbstüberschätzung bei
seinen Erfolgen ihn ungelehrig, unbändig bis zur
Apostasie machten. Zwischen dem an die Spitze
der katholischen Restauration tretenden Apologeten
und dem ein Menschenalter später zur Auflehnung
gegen Thron und Altar rufenden Demagogen
gähnt ein Abgrund.
Der unglücklichste Erklärungsversuch des Pro-
blems Lamennais ist, ihn dem Sozialismus
im heutigen Sinne zuzuweisen oder gar mit dem
Begriffe des „christlichen“ Sozialismus seine Lehre
abzutun. Als Lamennais in den Discussions
critiques, dann in den kleinen, wenig Aufsehen
erregenden Schriften Du Passé et de I Avenir
du peuple (1841), Une voix de prison (1846)
sich in derb abweisender Kritik mit den sozialisti-
schen Systemen seiner Zeit, dem Kommunismus
Robert Owens, den Theorien Saint-Simons und
Ch. Fouriers befaßte, geschah es in der früher
eingeschlagenen humanitären Richtung (Livre du
peuple (18381; Politique à l’usage du peuple
83 Del’Esclavage moderne (18391), von
der er auch in der Agitation von 1848 (Projet
d’unc constitution du crédit social; Question
du travail; De la Famille et de la Propriéte)
nicht abwich. Der Sozialismus Lamennais' blieb
ein humanitäres Phantasiegebilde ohne positive
Forderungen und ohne Rücksicht auf die soziali-
stische Parteibildung. Wir gehen, träumte er,
einer großen Ara neuer demokratischer Selbst-
organisation entgegen, in welcher der säkulare
Interessenstreit in allgemeiner Gleichheit und
Brüderlichkeit sich lösen wird. Lamennais war
kein kollektivistischer, noch weniger ein „christlicher"
Sozialist; man rechne ihn allenfalls als Gleich-
heitsfanatiker à la Rousseau zu den utopistischen
Sozialisten.
Wer die wirkliche Bedeutung Lamennais'
verstehen will, und sie ist eine außergewöhnliche,
über sein Jahrhundert hinausreichende, muß die
Ursprünge, die Prinzipien, die Persönlichkeiten,
die Werke der Lamennaisschen Schule, die Pro-