Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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Mit der Inlandlegitimierung wurde die Deutsche 
Feldarbeiterzentrale beauftragt. Der Legitimie- 
rungszwang besteht auch für Industriearbeiter, für 
welche die Zentrale jetzt gleichfalls Arbeit ver- 
mittelt. 
Nach ihrer neuesten unter dem 23. Aug. 1907 
genehmigten Satzung bezweckt die Feldarbeiter- 
zentrale „die Vermittlung von 
mit ausländischen, vornehmlich 
Arbeitern und die Lösung der damit in 
hang stehenden Fragen“. Zu den 
Vereins zählen die preußischen 
kammern. Die preußischen Minister für 
schaft, des Innern und der Finanzen sind berechtigt, 
sich in den Sitzungen der Mitgliederversammlung 
und des Aufsichtsrates vertreten zu lassen. Ihre 
Kommissare sind einzuladen, haben beratende 
Stimme und müssen jederzeit gehört werden. Zum 
Zwecke der Arbeitervermittlung haben sich der Zen- 
trale auch außerpreußische Vereine, so der land- 
wirtschaftliche Hauptverein für Bayern, für die 
Inlandlegitimierung haben sich die deutschen Bun- 
desstaaten mit Ausnahme von Bayern, Württem- 
berg, Baden, Hessen, Hamburg, Bremen und der 
Reichslande angeschlossen. 
Im Geschäftsjahr 1907/08 wurden von ihr 
54749 Arbeiter, und zwar 37975 Männer und Bur- 
schen und 16774 Weiber, vermittelt. Davon fielen 
auf die Landwirtschaft 42 495 Arbeiter mit 26 214 
männlichen und 16 281 weiblichen Personen. Wenn 
auch gegen das Vorjahr die Zahlen erheblich ge- 
stiegen sind, so erfolgt dennoch die Vermittlung 
zumeist noch im Privatwege oder durch die Kam- 
mern. Einen besseren überblick über den Bedarf er- 
geben die Legitimierungen. 
Hierfür ist vorgeschrieben, daß die ausländischen 
Arbeiter bei Vermeidung der Ausweisung jährlich 
eine von der Feldarbeiterzentrale auszustellende 
Legitimationskarte zu erwerben haben. Sie müssen 
stets einen bestimmten Arbeitgeber angeben und 
gelten als ausreichende Ausweispapiere im Sinne 
des Paßgesetzes. Wollen die Arbeiter ihr Arbeits- 
verhältnis lösen und ein neues eingehen, so ist dies 
durch die Ortspolizeibehörde auf der Karte zu ver- 
merken. Wird gegen die ordnungsmäßige Lösung 
des Arbeitsverhältnisses Widerspruch erhoben, so 
hat der Landrat, soweit erforderlich und möglich, 
nach Anhörung von Vertrauenspersonen zu ent- 
scheiden, ob die Karte umzuschreiben ist. Hierbei 
ist er an richterliche oder schiedsrichterliche Ent- 
scheidungen gebunden, wie er auch nur vorbehaltlich 
derartiger Entscheidungen anordnet. Hierdurch find 
auch die Rechte der Arbeiter in gewissem Maße ge- 
fichert. Denn der Kontraktbruch der Ausländer wird 
mehrfach dadurch herbeigeführt, daß an der Grenze 
    
    
  
    
    
des 
andere Lohnsätze versprochen wurden, daß der Arbeit- 19 
geber nicht alle Verpflichtungen erfüllt, oder daß 
die Arbeiter gar durch höhere Versprechungen seitens 
Dritter zum Vertragsbruch verleitet werden. 
Zur Durchführung der Legitimationsarbeiten 
hat die Zentrale, welche zur Zeit 328 ständige Be- 
amte und in den Monaten Februar bis April un- 
gefähr 200 Hilfsarbeiter beschäftigt, an der östlichen 
Grenze 28 Grenzämter, an der holländischen Grenze 
neuerdings 5, im Königreich Sachsen 2, ferner in 
Saarbrücken 1 Grenzamt, in Essen eine größere 
Abfertigungsstelle für den Westen sowie eine all- 
gemeine in Berlin errichtet. Es wird die Legiti- 
Landarbeiter. 
  
680 
mation im Grenzamte, an der Arbeitsstelle in den 
Grenzprovinzen und an der Arbeitsstelle im wei- 
teren Inlande unterschieden. In den beiden ersteren 
Fällen sind 2 M, im letzteren 5 M Gebühr zu ent- 
richten. 
Insgesamt sind von 31 Ämtern in der Zeit vom 
1. Febr. bis 30. Sept. 1908 legitimiert 444 677 
Personen, davon Polen aus Rußland 210 045, aus 
Galizien 81 078, Ruthenen aus Rußland 470, aus 
Galizien 58 875, Ungarn 20 849, Deutsche aus 
Rußland 16 368, aus Österreich 30 360, andere 
Nationen 266632. 
An der Arbeitsstelle wurden im gleichen Zeit- 
raum von den Amtern legitimiert 189 684 Per- 
sonen, davon Polen aus Rußland 41 971, aus 
Galizien 44 461, Ruthenen aus Rußland 194, aus 
Galizien 27 551, Ungarn 14747, Deutsche aus 
Rußland 7501, aus OÖsterreich 28 686, andere Na- 
tionen 24 573. Die meisten Personen find in den 
Monaten März und April legitimiert. 
Die Gesamtzahl der ausländischen, auch indu- 
striellen Arbeiter, die im Jahre 1908 ins Inland 
gekommen sind, wird auf 700 000 geschätzt. Im 
Jahre 1908 wurden 16 000 Fälle gefälschter oder 
fbrauchlich verwendeter Heimatspapiere festge- 
ellt. 
Die hier geschilderte Entwicklung hat für die 
größeren Güter den Bedarf an Ackerarbeitern in 
weitem Maße gedeckt. Sie hat aber dabei auch 
recht bedenkliche Seiten. Der Zustrom der Wan- 
derarbeiter kann aufhören, wenn die fremden 
Staaten im Interesse der heimischen Landwirt- 
schaft die Abwanderung erschweren oder verbieten. 
Das von den landwirtschaftlichen Wanderarbeitern 
ersparte und ins Ausland gesandte Geld, das sich 
jährlich auf über hundert Millionen schätzen läßt, 
ist ein direkter und unwiederbringlicher Verlust des 
Nationalvermögens. Die Wanderarbeiter sind auf 
den Gütern außer der Arbeitszeit sich selbst über- 
lassen; daraus können schwere, sittliche Schäden 
entstehen. Ihre religiöse Versorgung ist zudem 
schwierig, da sie, fremdsprachig und meist katho- 
lisch, vorwiegend in evangelischen Gegenden ar- 
beiten. Ihre Heranziehung kann deshalb nur als 
Notbehelf in schwerer Zeit betrachtet werden. Da- 
zu kommt, daß auch für die stark vermehrte Vieh- 
haltung und für Geschirrknechte, also meist für 
Gesindepersonen, die Nachfrage besonders im 
Westen erheblich größer ist als das Angebot. Hier 
hat sich das Institut der Schweizer entwickelt; 
auch werden schon verheiratete Personen, Inst- 
leute und Deputatisten zur Viehpflege heran- 
ezogen. 
h allem ist die Beseitigung der Leutenot eine 
der ernstesten Aufgaben. Die zu diesem Zweck 
vorgeschlagene Aufhebung der Freizügigkeit würde 
an den Grundlagen unseres volkswirtschaftlichen 
Lebens rütteln. Sie würde auch ihren Zweck nicht 
erreichen, die in ihrer Bewegungsfreiheit ge- 
hinderten Arbeiter mit Widerwillen gegen die 
Landarbeit erfüllen, sie jede Gelegenheit wahr- 
nehmen lassen, sich ihr zu entziehen und so die 
Zustände nur noch verschlimmern. Sie wäre auch 
im höchsten Maße antisozial, da sie lediglich im 
 
	        
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