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Stelle: „Herr Lassalle ist nun einmal so ein aus-
geprägter Sohn der neuen Zeit, die nichts von
jener Entsagung und Bescheidenheit wissen will,
womit wir uns mehr oder minder heuchlerisch in
unserer Zeit hindurchgelungert und hindurchgefaselt.
Dieses neue Geschlecht will genießen und sich gel-
tend machen im Sichtbaren ... Lassalle war
eine auffallende, interessante Erscheinung mit den
gewinnendsten Umgangsformen; auf die Massen
übte er durch seine Beredsamkeit einen geradezu
faszinierenden Einfluß. Aber auch die hervor-
ragendsten Männer konnten dem Zauber seiner
Persönlichkeit sich nicht entziehen. Fürst Bismarck
erklärte von ihm am 17. Sept. 1878 im deutschen
Reichstage: „Er war einer der geistreichsten und
liebenswürdigsten Menschen, mit denen ich je ver-
kehrt habe."“
Die öffentliche Aufmerksamkeit zog Lassalle zu-
erst auf sich durch seine Einmischung in den Hatz-
feldschen Ehescheidungsprozeß. Kaum
20 Jahre alt, hatte er in Berlin die Gräfin Hatz-
feld, geborene Fürstin Hatzfeld, kennen gelernt,
welche mit ihrem Manne einen Ehescheidungs-
und Teilungsprozeß führte. Mit leidenschaftlichem
Eifer nahm sich Lassalle der Sache der Gräfin an;
fast zehn Jahre lang führte er vor 36 Gerichten
deren Prozesse. Der Erfolg war, daß der „dumme
Judenjunge“, wie Graf Hatzfeld seinen Gegner
anfangs wegwerfend nannte, einen Vergleich zu
stande brachte, welcher der Gräfin ein fürstliches
Vermögen und ihm selber eine jährliche Rente von
5000 Talern sicherte. Auf Veranlassung Lassalles
hatte sich in diesen Prozessen Dr Mendelssohn im
Mainzer Hof zu Köln einer Kassette der Baronin
v. Meyendorff bemächtigt, um ein für die Klägerin
wichtiges Aktenstück zu erlangen. Mendelssohn
wurde verurteilt, Lassalle nach glänzender Selbst-
verteidigung vom Schwurgerichtshofe freigespro-
chen. Lassalle erwies sich in dieser wie in andern
gerichtlichen Verteidigungsreden als ein Meister
der Polemik; aber es war auch ein gut Teil Schau-
spielkunst dabei. Er verstand es, den Staats-
anwalt gewissermaßen zu Aufstellungen zu ver-
leiten, auf die er dann mit ausgiebigem, vorher
zurechtgelegtem Material mit einer Gründlichkeit
erwiderte, welche das Staunen der Zuhörer er-
regte. Lassalle pflegte überhaupt seine Reden auf
das sorgfältigste zu überlegen; was als glückliche
Eingebung des Augenblicks sich darstellte, war
meist wohl einstudiert und bis ins kleinste ver-
arbeitet.
Im Jahre 1848 stürzte sich Lassalle leidenschaft-
lich in die revolutionäre Bewegung. E
forderte in Düsseldorf zum bewaffneten Wider-
stande gegen die Staatsgewalt auf, suchte zur
Organisation dieses Widerstandes die Arbeiter
mit der Bourgeoisie zu verbinden, unternahm es,
an die Regierungskassen zu Düsseldorf Siegel
anzulegen, als in Berlin die Steuerverweigerung
beschlossen war, und bildete in Düsseldorf einen
förmlichen Aufstandsausschuß. Von den Ge-
Lassalle.
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schworenen in Düsseldorf von der
freigesprochen, die Erregung des
versucht zu haben, wurde er vom
gericht wegen Aufforderung
gegen Regierungsbeamte zu
fängnisstrafe verurteilt. Noch eine Reihe anderer
politischer Prozesse, in welche er durch seine agi-
tatorische Tätigkeit verwickelt wurde, brachten ihm
empfindliche Freiheitsstrafen ein. Uberhaupt war
er nach seinem eignen Ausdruck so gespickt mit
Kriminalverfolgungen wie der Panzer eines Krie-
gers mit Pfeilen. Lassalle war eine durchaus revo-
lutionäre Natur. Vor den Assisen in Düsseldorf
vertrat er das Recht der Revolution. „Ich will“,
rief er aus, „auf keinen andern Grund von Ihnen
freigesprochen sein als auf jenen souveränen, daß
der Aufruf zu den Waffen damals das Recht und
die Pflicht des Landes war.“ Von dem passiven
Widerstande wollte er nichts wissen. „Der passive
Widerstand, das ist der Widerspruch in sich selber;
es ist der duldende Widerstand, der nicht wider-
stehende Widerstand, der Widerstand, der kein
Widerstand ist. Der passive Widerstand, das ist
wie Lichtenbergs Messer ohne Stiel, dem die Klinge
fehlt, das ist wie der Pelz, den man waschen soll,
ohne ihn naß zu machen. Der passive Wider-
stand, das ist der bloße innere böse Wille ohne
äußere Tat.“
Im Jahre 1857 erschien Lassalles Buch über
die Philosophie Heraklits des Dunkeln von
Ephefus, deren Grundgedanke das Werden als
Prinzip aller Dinge ist. 1859 folgte eine Bro-
schüre: „Der italienische Krieg und die Aufgabe
Preußens“, welche die Wiederherstellung der deut-
schen Einheit durch Preußen forderte. Im Jahre
1861 wurde Lassalles Hauptwerk, das „System
der erworbenen Rechte“, in zwei Bänden
veröffentlicht. Lassalle leugnet in diesem Werke jede
sittliche Grundlage des Rechts. Alles Recht ent-
wickelt sich nach ihm geschichtlich bei den verschie-
denen Völkern und unter den verschiedenen so-
zialen Verhältnissen. Die einzelnen Rechtsinstitute
sind nur geschichtliche Kategorien. Die alleinige
Quelle des Rechts ist das gemeinsame Bewußt-
sein des ganzen Volkes, der allgemeine Geist;
daher kann, wenn infolge der Anderung dieses
allgemeinen Bewußtseins ein bestehendes Rechts-
institut abgeschafft wird, von irgend welcher
Kränkung erworbener Rechte nicht die Rede sein;
ebenso ist auch kein Recht auf Entschädigung an-
zuerkennen. „Europa“, sagt Lassalle in diesem
Werke, „steht in sozialer Beziehung vor der
Frage, ob die freie Betätigung und Entwicklung
der Arbeitskraft ausschließliches Privateigentum
des Besitzers von Arbeitssubstrat und Arbeits-
verhältnis (Kapital) sein und ob folgeweise dem
Unternehmer als solchem, und abgesehen von der
Remuneration seiner etwaigen geistigen Arbeit,
ein Eigentum an fremdem Arbeitswerte (Kapital-
prämie, Kapitalprofit, der sich bildete durch die
Differenz zwischen dem Verkaufspreis des Pro-