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zu verhelfen sei — wie sehr, sage ich, die arbeiten-
den Klassen auch berechtigt sind, dies vom Staate
zu fordern und dies als seinen wahrhaften Zweck
hinzustellen, so darf und wird dennoch der Ar-
beiter niemals vergessen, daß alles einmal er-
worbene gesetzliche Eigentum vollständig unan-
tastbar und rechtmäßig ist.“ Und in der Vertei-
digungsrede selbst fügte er hinzu: „So sehr also
reize ich die besitzlosen Klassen zum Hasse gegen
die besitzenden auf, daß ich ihnen in einem fort
die Unantastbarkeit und Heiligkeit alles einmal
erworbenen gesetzlichen Eigentums der besitzenden
Klasse predige und sie zur Achtung desselben er-
mahne.“ Doch wenni er sich auch eines Angriffes
auf die bestehende Gesellschaftsordnung enthielt,
so war Lassalle prinzipiell ein scharfer Gegner des
Privateigentums. Gerade in seinem „System der
erworbenen Rechte“ hatte er jede andere Begrün-
dung des Privateigentums abgelehnt, als das
allgemeine Bewußtsein; das Privateigentum ist
ihm lediglich eine historische Kategorie, die durch
den Volkswillen jederzeit abgeschafft werden könne.
Jene Heiligkeit und Unantastbarkeit, von der Las-
salle oben sprach, wird dadurch sehr problematisch.
Das Programm, um welches Lassalle die
Massen zu scharen suchte, lautete: Umformung
des Staates behufs Umänderung der sozialen
Verhältnisse. Hauptmittel sollte das allgemeine,
gleiche und direkte Wahlrecht sein. Den Kampf
gegen die Fortschrittspartei führte Lassalle nament-
lich auf sozialem Gebiete, und es muß anerkannt
werden, daß er ihn siegreich führte. Schultze-
Delitzsch, der sozialpolitische Führer der Fort-
schrittspartei, vertrat den Grundsatz der ausschließ-
lichen Selbsthilfe; seine Hauptgründung waren
die Konsumvereine, welche die Arbeiter bei der
Fahne der liberalen Partei halten sollten.
In einer besondern Streitschrift: „Herr Bastiat-
Schultze v. Delitzsch, der ökonomische Julian, oder
Kapital und Arbeit“, zerpflückte Lassalle die Theorie
seines Gegners. Rücksichtslos, oft beleidigend und
beschimpfend in der Form, vernichtete die Schrift
Lassalles vollständig das manchesterliche Dogma
von der Selbsthilfe des Arbeiters. Aber wenn
Lassalle auch in der Polemik gegen die man-
chesterlichen Gegner recht hatte, so haben ander-
seits, wie bemerkt, seine eignen sozialpolitischen
Anschauungen, soweit sie positiver Natur waren,
die Probe nicht bestanden.
Was nun die Beurteilung Lassalles als Be-
gründer und Führer der so zialdemokratischen
Arbeiterpartei anlangt, so ist oft darauf hin-
gewiesen worden, wie wenig derselbe nach seinen
gesamten äußeren Verhältnissen und seiner ganzen
Lebenshaltung zum Arbeiterführer berufen schien.
Georg Brandes sagt diesbezüglich in seinem lite-
rarischen Charakterbilde Lassalles: „Er, der De-
mokrat, kleidete sich wie ein Dandy, mit aus-
gesuchter Eleganz à quatre Spingles, wenn auch
mit Geschmack. Er legte Wert darauf, seine Zim-
mer geschmackvoll eingerichtet, ja geschmückt zu
Lassalle.
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sehen. Seine Diners und Soupers waren die
gewähltesten und feinsten in Berlin zu derselben
Zeit, wo er der Fürsprecher der Arbeiter war.“
Brandes findet darin keinen direkten Widerspruch,
sondern einen Gegensatz, „wie man ihn bei einer
reichen und komplizierten Natur, bei einem mit
Schönheitssinn ausgestatteten Jakobiner, bei einem
mit prächtig verzierten Waffen kämpfenden Revo-
lutionssoldaten, bei einem Manne findet, der noch
nicht ganz das Kind abgeschüttelt hat“. Lassalles
„testamentarischer Nachfolger“, Bernhard Becker,
verzeichnet, daß Lassalle kein Jahr verfließen ließ,
ohne im Juni oder Juli eine bis in den Herbst
dauernde Badereise anzutreten. Selbst nachdem
der Allgemeine deutsche Arbeiterverein am 23. Mai
1863 gestiftet worden war, ließ Lassalle trotz der
notwendig gewordenen Agitation sich schon nach
Verlauf eines Monats nicht abhalten, die Schweiz
und Ostende zu besuchen.
Auch seine vielfachen Beziehungen zu hervor-
ragenden Persönlichkeiten der höchsten Stände
machten Lassalle der vorgeschrittenen Sozialdemo-
kratie verdächtig. Namentlich haben dazu auch
seine Beziehungen zum nachmaligen deutschen
Reichskanzler und Fürsten Bismarck beigetragen,
der in Lassalle ein brauchbares Werkzeug zur Be-
kämpfung des fortschrittlichen Liberalismus er-
blickte. Bernhard Becker wirft ihm vor: weil es
mit der Arbeiterbewegung schlecht vorwärts ging,
habe er sich immer weiter rechts treiben lassen.
„Er befreundete sich immer mehr mit der Kreuz-
zeitungspartei, stützte sich bei der Verteidigungs-
rede in seinem Hochverratsprozeß am 12. März
1864 auf den Säbelknauf des absolutistischen
Königtums, das ursprünglich überall Volkskönig-
tum gewesen sei, lobte in der Ronsdorfer Rede am
22. Mai 1864 den Mainzer Bischof v. Ketteler
als einen Mann, „der am Rhein fast für einen
Heiligen gilt", und verwies die Arbeiter auf ein
nichtssagendes Versprechen des Königs von Preu-
ßen. Indemer sich sodann selbstgefällig im Spie-
gel seiner Eitelkeit besah, rief er übertreibend
aus: „Die Arbeiter, das Volk, die Gelehrten, die
Bischöfe, der König haben mich gezwungen, Zeug-
nis abzulegen für die Wahrheit unserer Grund-
sätze.“ „Erst“, so fährt Bernhard Becker fort,
„war die Agitation, wie die im „Arbeiterlesebuch"
gedruckte Frankfurter Rede beweist, rein sozial-
demokratisch gewesen. Nach und nach erhielt sie
einen preußisch-monarchischen Beigeschmack. Wenn
Lassalle, wie manche annehmen, durch seine Eitel-
keit verleitet wurde, eine Zeitlang an die Möglich-
keit zu glauben, daß er mit seiner Arbeiter-
bewegung als ebenbürtige Macht sich neben dem
mit der preußischen Staatsallmacht ausgerüsteten
Bismarck behaupten könnte, so mußte er doch bald
einsehen, daß er sich arg verrechnet hatte.“
Sicher würde Lassalles Stellung zu den Ar-
beitermassen, die ihm so oft zugejubelt, immer
schwieriger geworden sein, wenn nicht ein früher
Tod seine Laufbahn beendet hätte; er starb am