Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

743 
zu verhelfen sei — wie sehr, sage ich, die arbeiten- 
den Klassen auch berechtigt sind, dies vom Staate 
zu fordern und dies als seinen wahrhaften Zweck 
hinzustellen, so darf und wird dennoch der Ar- 
beiter niemals vergessen, daß alles einmal er- 
worbene gesetzliche Eigentum vollständig unan- 
tastbar und rechtmäßig ist.“ Und in der Vertei- 
digungsrede selbst fügte er hinzu: „So sehr also 
reize ich die besitzlosen Klassen zum Hasse gegen 
die besitzenden auf, daß ich ihnen in einem fort 
die Unantastbarkeit und Heiligkeit alles einmal 
erworbenen gesetzlichen Eigentums der besitzenden 
Klasse predige und sie zur Achtung desselben er- 
mahne.“ Doch wenni er sich auch eines Angriffes 
auf die bestehende Gesellschaftsordnung enthielt, 
so war Lassalle prinzipiell ein scharfer Gegner des 
Privateigentums. Gerade in seinem „System der 
erworbenen Rechte“ hatte er jede andere Begrün- 
dung des Privateigentums abgelehnt, als das 
allgemeine Bewußtsein; das Privateigentum ist 
ihm lediglich eine historische Kategorie, die durch 
den Volkswillen jederzeit abgeschafft werden könne. 
Jene Heiligkeit und Unantastbarkeit, von der Las- 
salle oben sprach, wird dadurch sehr problematisch. 
Das Programm, um welches Lassalle die 
Massen zu scharen suchte, lautete: Umformung 
des Staates behufs Umänderung der sozialen 
Verhältnisse. Hauptmittel sollte das allgemeine, 
gleiche und direkte Wahlrecht sein. Den Kampf 
gegen die Fortschrittspartei führte Lassalle nament- 
lich auf sozialem Gebiete, und es muß anerkannt 
werden, daß er ihn siegreich führte. Schultze- 
Delitzsch, der sozialpolitische Führer der Fort- 
schrittspartei, vertrat den Grundsatz der ausschließ- 
lichen Selbsthilfe; seine Hauptgründung waren 
die Konsumvereine, welche die Arbeiter bei der 
Fahne der liberalen Partei halten sollten. 
In einer besondern Streitschrift: „Herr Bastiat- 
Schultze v. Delitzsch, der ökonomische Julian, oder 
Kapital und Arbeit“, zerpflückte Lassalle die Theorie 
seines Gegners. Rücksichtslos, oft beleidigend und 
beschimpfend in der Form, vernichtete die Schrift 
Lassalles vollständig das manchesterliche Dogma 
von der Selbsthilfe des Arbeiters. Aber wenn 
Lassalle auch in der Polemik gegen die man- 
chesterlichen Gegner recht hatte, so haben ander- 
seits, wie bemerkt, seine eignen sozialpolitischen 
Anschauungen, soweit sie positiver Natur waren, 
die Probe nicht bestanden. 
Was nun die Beurteilung Lassalles als Be- 
gründer und Führer der so zialdemokratischen 
Arbeiterpartei anlangt, so ist oft darauf hin- 
gewiesen worden, wie wenig derselbe nach seinen 
gesamten äußeren Verhältnissen und seiner ganzen 
Lebenshaltung zum Arbeiterführer berufen schien. 
Georg Brandes sagt diesbezüglich in seinem lite- 
rarischen Charakterbilde Lassalles: „Er, der De- 
mokrat, kleidete sich wie ein Dandy, mit aus- 
gesuchter Eleganz à quatre Spingles, wenn auch 
mit Geschmack. Er legte Wert darauf, seine Zim- 
mer geschmackvoll eingerichtet, ja geschmückt zu 
Lassalle. 
  
744 
sehen. Seine Diners und Soupers waren die 
gewähltesten und feinsten in Berlin zu derselben 
Zeit, wo er der Fürsprecher der Arbeiter war.“ 
Brandes findet darin keinen direkten Widerspruch, 
sondern einen Gegensatz, „wie man ihn bei einer 
reichen und komplizierten Natur, bei einem mit 
Schönheitssinn ausgestatteten Jakobiner, bei einem 
mit prächtig verzierten Waffen kämpfenden Revo- 
lutionssoldaten, bei einem Manne findet, der noch 
nicht ganz das Kind abgeschüttelt hat“. Lassalles 
„testamentarischer Nachfolger“, Bernhard Becker, 
verzeichnet, daß Lassalle kein Jahr verfließen ließ, 
ohne im Juni oder Juli eine bis in den Herbst 
dauernde Badereise anzutreten. Selbst nachdem 
der Allgemeine deutsche Arbeiterverein am 23. Mai 
1863 gestiftet worden war, ließ Lassalle trotz der 
notwendig gewordenen Agitation sich schon nach 
Verlauf eines Monats nicht abhalten, die Schweiz 
und Ostende zu besuchen. 
Auch seine vielfachen Beziehungen zu hervor- 
ragenden Persönlichkeiten der höchsten Stände 
machten Lassalle der vorgeschrittenen Sozialdemo- 
kratie verdächtig. Namentlich haben dazu auch 
seine Beziehungen zum nachmaligen deutschen 
Reichskanzler und Fürsten Bismarck beigetragen, 
der in Lassalle ein brauchbares Werkzeug zur Be- 
kämpfung des fortschrittlichen Liberalismus er- 
blickte. Bernhard Becker wirft ihm vor: weil es 
mit der Arbeiterbewegung schlecht vorwärts ging, 
habe er sich immer weiter rechts treiben lassen. 
„Er befreundete sich immer mehr mit der Kreuz- 
zeitungspartei, stützte sich bei der Verteidigungs- 
rede in seinem Hochverratsprozeß am 12. März 
1864 auf den Säbelknauf des absolutistischen 
Königtums, das ursprünglich überall Volkskönig- 
tum gewesen sei, lobte in der Ronsdorfer Rede am 
22. Mai 1864 den Mainzer Bischof v. Ketteler 
als einen Mann, „der am Rhein fast für einen 
Heiligen gilt", und verwies die Arbeiter auf ein 
nichtssagendes Versprechen des Königs von Preu- 
ßen. Indemer sich sodann selbstgefällig im Spie- 
gel seiner Eitelkeit besah, rief er übertreibend 
aus: „Die Arbeiter, das Volk, die Gelehrten, die 
Bischöfe, der König haben mich gezwungen, Zeug- 
nis abzulegen für die Wahrheit unserer Grund- 
sätze.“ „Erst“, so fährt Bernhard Becker fort, 
„war die Agitation, wie die im „Arbeiterlesebuch" 
gedruckte Frankfurter Rede beweist, rein sozial- 
demokratisch gewesen. Nach und nach erhielt sie 
einen preußisch-monarchischen Beigeschmack. Wenn 
Lassalle, wie manche annehmen, durch seine Eitel- 
keit verleitet wurde, eine Zeitlang an die Möglich- 
keit zu glauben, daß er mit seiner Arbeiter- 
bewegung als ebenbürtige Macht sich neben dem 
mit der preußischen Staatsallmacht ausgerüsteten 
Bismarck behaupten könnte, so mußte er doch bald 
einsehen, daß er sich arg verrechnet hatte.“ 
Sicher würde Lassalles Stellung zu den Ar- 
beitermassen, die ihm so oft zugejubelt, immer 
schwieriger geworden sein, wenn nicht ein früher 
Tod seine Laufbahn beendet hätte; er starb am
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.