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(Propos. 61): „Die vom Erfolge gekrönte unge-
rechte Tat schadet der Heiligkeit des Rechtes nicht.“
Eine solche Theorie hebt den Rechtsbegriff selbst
auf. Wenn jede vom Glück begünstigte Tatsache
eo ipso ein Recht begründet, so verleiht der mit
Erfolg ausgeführte Raub ein Recht; ja die Unter-
scheidung zwischen tatsächlichem und rechtlichem
Besitz wäre sinnlos, weil der Besitz nie rechts-
widrig sein könnte. Zu einem wirklichen Recht
gehört allerdings auch eine Tatsache als Rechts-
titel; aber diese Tatsache kann doch nur insofern
ein Rechtstitel sein, als ihr auf Grund eines
natürlichen oder positiven Gesetzes dieser Charakter
zukommt. Abgesehen von oder gar im Wider-
spruch mit diesen Gesetzen kann eine Tatsache nie
und nimmer Recht erzeugen.
3. Pflichten der Untertanen gegen
den Usurpator und den Prätendenten.
Es ist also anzuerkennen, daß die bloße Tat-
sache der Besitzergreifung dem Usurpator kein Recht
verleiht, daß vielmehr der unrechtmäßig ent-
thronte Fürst wenigstens vorläufig der legitime
Monarch bleibt, obwohl er an der Wiedererobe-
rung und Ausübung seiner Gewalt durch die
Macht der Verhältnisse verhindert ist. Unrichtig
ist deshalb, was Bluntschli (Die Lehre vom mo-
dernen Staat II [18851 186) schreibt: „Der ent-
thronte Herrscher verliert sein Recht, sobald er
durch die Verhältnisse genötigt wird, den Kampf
um die Herstellung der Herrschaft aufzugeben,
d. h. wenn einerseits im eignen Lande jeder fak-
tische Widerstand ausgehört hat und auch die
Aussicht, denselben zu erneuern, verschwunden ist,
und anderseits die Möglichkeit, von außen her
durch völkerrechtliche Einwirkung oder Krieg die
Wiedereinsetzung zu vollziehen, zerstört ist.“ Aus
einer solchen tatsächlichen Unmöglichkeit folgt für
den rechtmäßigen Herrscher nur die Pflicht, von
seinem guten Rechte vorläufig, bis etwa günstigere
Verhältnisse eingetreten sind, keinen Gebrauch zu
machen; aber das Recht selbst erlischt deswegen
noch nicht. Solange der Usurpator unrechtmäßig
an seinem Posten bleibt, macht er sich durch jede
seiner Regierungshandlungen der Anmaßung
fremder Rechte schuldig, auch wenn diese Hand-
lungen den Untertanen nützlich, ja notwendig sind.
Der legitime Monarch darf daher auch, soweit
Aussicht auf Erfolg ist und keine unverhältnis-
mäßig großen Nachteile für die Gesamtheit zu
fürchten sind, mit Gewalt sein gutes Recht sich
zurückerobern und zu diesem Zwecke seine Unter-
tanen zu den Waffen rufen. Denn als der recht-
mäßige Träger der Staatsgewalt ist er befugt,
dem Usurpator den Krieg zu erklären und die
Untertanen zur Hilfeleistung zu verpflichten. Eine
solche Erhebung eines Volkes zugunsten seines
legitimen Herrschers hat mit einer Revolution
nichts gemein.
Hat sich der Usurpator schon derart in seiner
Stellung befestigt, daß unter den vorhandenen
Umständen die Entthronung desselben ohne einen
Legitimität.
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langwierigen, das ganze Land verheerenden
Bürgerkrieg nicht mehr möglich ist, so darf der
Prätendent vorläufig sein Recht nicht mit Gewalt
zur Geltung bringen. Dasselbe erlischt zwar noch
nicht; aber weil es unter den obwaltenden Um-
ständen mit dem höheren Rechte der Gesamtheit
auf das öffentliche Wohl unvereinbar ist, darf der
Prätendent vorläufig keinen Gebrauch davon
machen. Selbstverständlich sind die Untertanen
gehalten, alle nichts Unerlaubtes enthaltenden und
die Rechte des legitimen Fürsten nicht ungerecht
schädigenden Regierungsmaßregeln des Usur-
pators, solange der letztere an seinem Posten
bleibt, zu befolgen. Denn ohne eine Regierung,
welche, wenn auch nicht de jure, so doch wenig-
stens de facto als solche gilt und das zum öffent-
lichen Wohle Erforderliche anordnet und regelt,
würde ein ganzes Volk dem Verderben preis-
gegeben (s. d. Art. Usurpation).
Gründe von seiten der Legiti-
misten. Wenn dieser Zustand der Vergewalti-
gung lange Zeit fortdauert, wenn auf weite Zu-
kunft hinaus keine oder nur höchst geringe Aus-
sichten auf den Wiedererwerb der Krone für den
Prätendenten und seine Familie vorhanden sind:
soll auch dann noch der Usurpator nicht zum recht-
mäßigen Herrscher werden? Die Beantwortung
dieser wichtigen und schwierigen Kontroverse hängt
von der Frage ab, ob es in Bezug auf die öffent-
liche Gewalt irgend eine Art oder wenigstens eine
Analogie von Verjährung (praescriptio) geben
könne? Entschieden verneint wird diese Frage von
den Anhängern des Legitimitätsprinzips, den sog.
Legitimisten. Mit diesem Namen wurde zu-
erst die politische Partei bezeichnet, welche auch
nach dem Sturze Karls X. durch die Julirevolu-
tion die Bourbonen als die einzigen rechtmäßigen
(legitimen) Herrscher Frankreichs anerkannte. Der
Theorie der faits accomplis stellte dieselbe das
Legitimitätsprinzip entgegen, kraft dessen der
rechtmäßige König in einer Erbmonarchie weder
durch Usurpation noch durch Revolution, weder
durch Plebiszite noch durch vollendete Tatsachen
sein Herrscherrecht je verlieren könne. Den revo-
lutionären Ideen von der wesentlichen Volks-
souveränität gegenüber suchte sie das Königtum
von Gottes Gnaden wieder zu Ehren zu bringen,
und die königliche Gewalt, soweit möglich, in den
vorrevolutionären Zustand zurückzuversetzen. Doch
letztere Forderung ist eine unwesentliche Zutat, die
mit dem Legitimitätsprinzip als solchem nichts zu
schaffen hat. Man muß daher wohl die Legitimi-
tätstheorie an sich von der Form unterscheiden,
in der sie von einigen Anhängern des alten König-
tums in Frankreich verfochten wurde. Die Nicht-
beachtung dieser Unterscheidung verleitet Bluntschli
(#. u. O. II 25) zu einer völlig unrichtigen Dar-
stellung des Legitimismus. Der ursprünglich bloß
von der genannten französischen Partei gebräuch-
liche Name Legitimisten wurde später auf alle jene
politischen Parteien anderer Länder ausgedehnt,