Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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lingen hinreichend Gelegenheit gegeben, ihre Lei- 
stungen in legaler Form bestätigen zu lassen. — 
Die Wirksamkeit der Prüfungsausschüsse, welche 
seit 1900 eingeführt sind, ist bis heran eine sehr 
günstige; die Mehrzahl der Lehrlinge unterzieht 
sich nach Ablauf der Lehrzeit der vorgeschriebenen 
Prüfung. 
7. Kaufmännische Lehrlinge. Auch im 
Kaufmanns= und Handelsstande gibt es eine 
Lehrlingsfrage, dort vielleicht noch mehr hervor- 
tretend wie in den andern gewerblichen Berufen. 
Sie ist veranlaßt durch ungenügende Vorbildung 
vor der Lehrzeit und durch mangelhafte Ausbil- 
dung des kaufmännischen Nachwuchses während 
derselben einerseits, anderseits durch die Arbeits- 
teilung und teilweise auch durch nicht genügende 
Kenntnisse mancher Kaufleute (Lehrherren) selber. 
Nach der 15. Schrift des Verbandes deutscher Hand- 
lungsgehilfen: „Das Lehrlingswesen“ (1907), 
tritt „nahezu ein Drittel der jungen Leute mit 
einer ungenügenden Vorbildung in den kaufmän- 
nischen Beruf ein“. Die wachsende Konkurrenz, 
die steigenden Anforderungen an die Arbeitskräfte 
verleiten einen Teil der Prinzipale, die Lehrlinge, 
anstatt sie auszubilden, ausschließlich oder vor- 
wiegend als billige Arbeitskräfte zu verwerten. 
„An Stelle des Lehrgeldes für die Lehrlings- 
ausbildung tritt das Lehrlingsgehalt“, eine An- 
forderung zumeist der Eltern, die wünschen, daß 
die Kinder schnell verdienen sollen. Die Folge ist 
zu lange Arbeitszeit, Beschäftigung mit niedrigen 
mechanischen Arbeiten. Dazu tritt die Einstellung 
weiblichen Lehrpersonals, das zumeist aus 
einer Lehrlingspresse hervorgeht. Es hat gegen- 
über dem männlichen Lehrpersonal daher in der 
Regel eine kürzere Lehrzeit, gewöhnlich von einigen 
Monaten, selten bis zu zwei Jahren; in vielen 
Fällen fehlt bei ihm eine eigentliche Lehrzeit auch 
ganz, und das Mädchen beginnt sofort als niedrig 
bezahlte Gehilfin die kaufmännische Laufbahn (s. 
16. Schrift des genannten Verbandes). — Viele 
Handlungshäuser halten eine unangemessen große 
Zahl von Lehrlingen, um die Gehälter für Ge- 
hilfen zu sparen, und überlassen ihre Zöglinge 
nach Beendigung ihrer sog. Lehrzeit ihrem Schick- 
sale. Nach den Erhebungen der Kommission für 
Arbeiterstatistik kamen auf 100 befragte männliche 
Gehilfen 68,5 Lehrlinge. Von je 100 Betrieben, 
die gleichzeitig Gehilfen und Lehrlinge beschäf- 
tigten, hatten 39,8 weniger, 40,6 ebensoviel und 
19,6 mehr Lehrlinge als Gehilfen. Besonders 
ungünstig zeigte sich das Ubermaß von Lehrlingen 
in Kolonialwarengeschäften; hier hatten von 100 
Betrieben 27,7 mehr Lehrlinge als Gehilfen. 
„Diese bezahlten Lehrlinge sind nichts anderes als 
gewöhnliche jugendliche Arbeiter, die ganz ein- 
seitig beschäftigt werden, Hausdiener und Lauf- 
burschen in billiger Weise ersetzen und nur zum 
Nutzen des Geschäfts eines Kaufmanns wie Zi- 
tronen ausgepreßt werden“ (G. Hiller). — Eine 
derart mangelhafte Ausbildung hat im Kauf- 
  
Lehrlings- und Gesellenwesen. 
  
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mannsstande gewaltige Mißstände erzeugt und 
vermehrt das besser gekleidete Proletariat zum 
Schaden der Gesamtheit. Wiederholt haben viele 
kaufmännische Vereine an Eltern und deren Stell- 
vertreter die dringende Mahnung erlassen, nicht 
gut veranlagte und nicht genügend vorbereitete 
Knaben von der Ergreifung der kaufmännischen 
Laufbahn abzuhalten. Diese Mahnung ist dort 
um so berechtigter, wo die Eltern mittellos sind 
oder wo den jungen Leuten Neigung und Beruf 
zum Kaufmann abgeht; sie ist aber auch um so 
beachtenswerter, als im Kaufmannsstande nur der- 
jenige Aussicht hat, vorwärts zu kommen, der sich 
die erforderlichen Kenntnisse durch qualifzierte 
Ausbildung aneignen kann. 
Man hat dem Mangel an Ausbildung durch 
Errichtung von kaufmännischen Fortbildungs- 
chulen zu begegnen gesucht. Einzelne Bundes- 
staaten, wie Sachsen, Bayern, Württemberg, 
Hessen usw., haben das Fortbildungsschulwesen 
durch landesherrliche Vorschriften in geregelte 
Bahnen zu bringen versucht, andere Staaten haben 
es dagegen vollständig in das fakultative Ermessen 
der städtischen und kommunalen Verwaltungen 
gesetzt; in diesen bildet der § 120 der Gewerbe- 
ordnung die rechtliche Unterlage für ihre Maß- 
nahmen. Infolgedessen herrscht im kaufmännischen 
Fortbildungswesen in Deutschland große Ungleich- 
heit und Zerfahrenheit. — Man unterscheidet in 
Deutschland nach A. Roth drei Arten kaufmänni- 
scher Fortbildungsschulen, solche mit direktem 
Besuchszwange, zu deren Besuch alle Handlungs- 
gehilfen und Lehrlinge bis zu einem gewissen 
Alter — zumeist bis zum 18. Jahre — ver- 
pflichtet sind, solche mit indirektem Besuchs- 
zwange, deren Unterricht von der höheren Ver- 
waltungsbehörde als ausreichender Ersatz des 
allgemeinen Fortbildungsschulunterrichtes an- 
erkannt worden ist, und endlich freie Fortbil- 
dungsschulen (Handelsschulen usw.). — Diese 
Fortbildungsschulen, deren es in Deutschland bis 
Ende 1903: 460 gab, genügen nicht. Der Ver- 
band deutscher Handlungsgehilfen verlangt des- 
halb und aus obigen Gründen Reformen, und 
zwar eine reichsgesetzliche Reglung des kaufmän- 
nischen Fortbildungsschulwesens in folgender Rich- 
tung: Besuchszwang für männliche und weibliche 
Handlungsgehilfen bis zum 18. Jahre, Aufnahme- 
prüfung für die Fortbildungsschulen, Vorschriften 
über Halten der Lehrlinge, analog denen für 
Handwerkerlehrlinge, Lehrlingsskala, Einführung 
von Prüfungen, Zeugniszwang, Überwachung der 
Arbeitszeit der Lehrlinge, Handelsinspektoren zur 
Überwachung der Verhältnisse im Handelsgewerbe 
usw., ferner erlangt er eine durchgreifende Reor- 
ganisation des privaten Handelsschulwesens. (Vgl. 
auch die Art. Kaufmännisches Bildungswesen, 
Fortbildungsschulen.) " 
Bisheran ist eine reichsgesetzliche Reglung 
des kaufmännischen Lehrlingswesens zwar von 
verschiedenen Verbänden wiederholt beantragt 
—.
	        
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