799
worden, aber nicht erfolgt. Der Abgeordnete
Dr C. Trimborn hat deshalb versucht, zunächst
die preußische Regierung zum Vorgehen in dieser
Richtung zu veranlassen, und Anfang 1909 im
preußischen Abgeordnetenhause einen Antrag
auf Förderung des Kaufmannsstandes
eingebracht, der eine Reihe von Verbesserungs-
vorschlägen enthält und die Regierung zu den
nötigen Erhebungen auffordert.
8. Lehrlingsstatistik. Nach der Gewerbe-
zählung von 1895 waren im Deutschen Reiche vor-
handen 701033 Lehrlinge, darunter 634525 männ-
liche und 65 508 weibliche; in der Industrie davon
beschäftigt allein 610 507.
Die Erhebungen des Jahres 1907 waren bei
Abschluß dieses Artikels seitens des Kaiserlichen
Statistischen Amtes zwar noch nicht veröffentlicht,
indessen ergeben die vorläufigen Veröffentlichungen,
besonders die genauere Erhebung von 1904 über
die Wirkung des Handwerkergesetzes, erheblich gün-
stigere Zahlen für das Handwerk. (Näheres s. Art.
Innung.)
9. Lehrlingsheime. Um diejenigen Lehr-
linge, welche nicht bei dem Meister Unterkunft
oder genügende Beaufsichtigung finden, vor den
Gefahren der Großstädte zu bewahren, haben zu
Anfang des 19. Jahrh. allenthalben zuerst die
Jesuiten, z. B. in Regensburg, München, Wien
und andern Städten, Lehrlingskongregationen
errichtet, welche von den Regierungen des guten
Zwecks wegen gerne gesehen wurden und bis in
die 1870er Jahre fortdauerten. In Italien wurde
die erste derartige Kongregation 1846 zu Turin
von dem Priester Don Bosco geschaffen, der mit
einem armen Maurerlehrling das erste Lehrlings-
haus oder Asyl eröffnete. Bald wohnte eine große
Anzahl von Knaben in dem einfachen Lehrlings-
hause. 20 Jahre später hatten sich diese Institute
nicht nur über die Hauptstädte Italiens, sondern
auch teilweise über Spanien und Frankreich und
selbst nach Südamerika (Patagonien) verbreitet.
Jährlich verlassen jetzt über 2000 Lehrlinge seine
Arbeiterseminare. Don Bosco wird für alle Zeit
ein Muster und Vorbild aller sozialen Tätigkeit
auf diesem Gebiete bleiben. Seit den 1850er
Jahren sind in Frankreich auch die Vinzentius-
vereine für die Uberwachung der Lehrlinge tätig.
Dieses Beispiel hat auch in Deutschland zur Nach-
ahmung angespornt, und seit den 1880er Jahren
sind auch hier mehr und mehr Lehrlingsvereine
mit Vereinshäusern geschaffen worden.
1902 zählte man in Deutschland bereits 130 ka=
tholische Lehrlingsvereine, die zum Teil Logishäuser
für Lehrlinge eingerichtet hatten, so Köln, Koblenz,
M.-Gladbach usw., daneben 970 Jünglingsver-
einigungen. Nicht minder rührig auf diesem Ge-
biete waren die Evangelischen in den sog. Jüng-
lingsvereinen; besondere Lehrlingsvereine sind von
ihnen nicht gegründet, sie haben aber in mehr als
2000 deutschen Jünglingsvereinen glänzende Re-
sultate erzielt. Die sämtlichen evangelischen Jüng-
lingsvereine sind im „Weltbund" (Sitz Genf) zu-
Lehrlings= und Gesellenwesen.
800
sammengefaßt, der 1904 bereits 6500 Vereine
zählte. — Trotz dieser großen Tätigkeit beider
Konfessionen herrscht auch heute noch auf dem Ge-
biete der Wohnungsfürsorge für Lehrlinge ein wenig
erfreulicher Zustand. Nach der Gewerbestatistik von
1895 wohnten von 100 Lehrlingen jeder Gewerbe-
gruppe nur 56,4 bei den Lehrherren; im Handwerk
teils mehr, so bei den Bäckern 96,2, bei Fleischern
94,6, Schneidern 92,7, teils erheblich weniger, so“
bei den Bauunternehmern nur 4,9, den Buch-
druckern 14,5, Maurern 19,2 usw. (Näheres beie
Dr A. Pieper, Jugendfürsorge und Jugendverein.)
Die Asyle ersetzen die Wohnung bei den Mei-
stern, die schlechten Kosthäuser, Wirtshäuser usw.
und streben für die freie Zeit der Lehrlinge, auch
für die bei den Meistern untergebrachten, nament-
lich an den Sonntagen eine passende Beschäftigung
und Unterhaltung an. Sie erstreben Förderung
der sittlichen und religiösen Erziehung, Hebung
der Fachbildung und Pflege der Geselligkeit.
Staat und Gemeinde haben die Wichtigkeit dieser
Vereine anerkannt und unterstützen sie zwar etwas,
indessen ist hier noch viel zu wenig geschehen. Ge-
rade hier bietet sich speziell für die Gemeinden ein
weites Feld praktischer kommunaler Sozialpolitik;
auch Innungen und Gewerbevereine können hier
einen großen Teil ihrer sozialen Aufgabe lösen.
Wünschenswert ist es, daß das bis heute in keiner
Weise gesetzlich geregelte Lehrlingsheimwesen nach
bestimmten Prinzipien, namentlich hinsichtlich der
finanziellen Unterstützungspflicht seitens der Kom-
munen und gewerblichen Korporationen, bald
durch Gesetz geregelt werde. Allerdings läßt sich
die Schwierigkeit der gesetzlichen Reglung dieser
Materie nicht verkennen, weil dieses Feld zum
Teil die charitative Seite streift; wo aber ein
Wille, dort ist auch ein Weg zu finden.
10. Die Reglung des Lehrlings-
wesens im Auslande. In Österreich war
der durch die frühere Gesetzgebung geschaffene
Unterschied von zünftigen und nicht zünftigen Ge-
werben auch für das Lehrlingswesen insofern von
Bedeutung, als dieses in zünftigen Gewerben
streng geordnet war. Während die nicht zünftigen
Gewerbe ihr Lehrlingswesen selbst ordnen konnten,
war für die Zulassung zu den ersteren ein Schul-
besuch von mindestens zwei Jahren und eine
Probezeit bestimmt. Die Lehrzeit dauerte in der
Regel zwei bis vier Jahre; die Abfassung eines
Lehrvertrages war Vorschrift. Diese wurde 1830
abgeschafft, 1859 aber mit der Modifikation
wieder eingeführt, daß der Inhalt der freien Ver-
einbarung überlassen bleiben sollte. Das Lehrgeld
betrug 10 Gulden. Im Jahre 1883 wurde durch
Ministerialverordnung vom 17. Sept. auf Grund
des Gesetzes vom 15. März 1883 die Lehrzeit auf
zwei bis vier Jahre, jedoch nach näheren Bestim-
mungen der einzelnen Genossenschaften (Innungen)
-estgesetzt. Das Gesetz von 1883 strebte eine
Stärkung der gewerblichen Genossenschaften durch
Ausscheidung der Lehrlinge in fabrikmäßig betrie-
benen Gewerben an; diese sollten in Zukunft nur