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noch beitrittsberechtigt sein. Eine gleiche Verord-
nung vom 5. Juli 1892 ermäßigte die Lehrzeit
für die Lehrlinge, welche die Fortbildungsschule
besucht haben, auf anderthalb Jahre. Nach der
Novelle zur Gewerbeordnung vom 8. März 1885
dürfen Lehrlinge von Gewerbsinhabern nur dann
angenommen und gehalten werden, wenn der In-
haber des betreffenden Gewerbes die erforderlichen
Fachkenntnisse zur Ausbildung von Lehrlingen be-
sitzt. Diese werden durch den sog. Verwendungs-
nachweis (zwei= bis vierjährige Lehrzeit und min-
destens zweijährige Verwendung in dem betreffenden
Gewerbe) erbracht. — Das Gesetz vom 23. Febr.
1897 nimmt die Neureglung des Lehrlingswesens
vor, ohne jedoch eine grundsätzliche Anderung
hierin geschaffen zu haben.
Die Novelle vom 4. Febr. 1907 dehnt den
Verwendungsnachweis zum Teil auch auf das
Handelsgewerbe, besonders auf Spezerei, Ko-
lonial-, Materialwarengehilfen und den gemischten
Warenhandel aus. Sie verbietet den Handelsge-
werbetreibenden, Bestellungen auf Waren anzu-
nehmen, z. B. ist Kleiderhändlern die üÜber-
nahme von Maßarbeit untersagt; ferner hat sie
die Gesellenprüfung im Handwerk obligatorisch
gemacht und verlangt auch von gewerbetreibenden
Frauen die Erbringung des Verwendungsnach-
weisen. In Handelsgesellschaften, die ein Hord-
werk betreiben, muß wenigstens einer der Gesell-
schafter den Verwendungsnachweis besitzen. Ob
durch solche Maßnahmen das Handwerk und be-
sonders der gewerbliche Nachwuchs gehoben wird,
muß abgewartet werden; es scheint zweifelhaft.
Das österreichische Gesetz läßt auch die Münd-
lichkeit des Lehrvertrages zu, mit der Beschränkung
jedoch, daß derselbe in diesem Falle vor dem Ge-
nossenschaftsvorsteher bzw. der Gemeindebehörde
abzuschließen ist. Im übrigen ähneln die meisten
Bestimmungen desselben denen des Reichsgesetzes
vom 26. Juli 1897. Von einschneidender Be-
deutung auf das Lehrlingswesen ist jedoch im
Gegensatze zu dem deutschen Reichsgesetze der Um-
stand, daß die sämtlichen Gewerbeinhaber oder
Pächter nach § 107 mit Antritt des Gewerbes
der Genossenschaft (Innung), welche für das be-
treffende Gewerbe errichtet worden ist, anzugehören
haben. Dadurch unterstehen sämtliche gewerblichen
Lehrlinge überhaupt ohne weiteres als Angehörige
der Genossenschaft im Gegensatz zu Deutschland
dieser (der Innung) und den von ihr erlassenen
Bestimmungen zur Reglung des Lehrlingswesens.
Das Lehrlingswesen der Schweiz unterscheidet
sich von dem deutschen und österreichischen dadurch,
daß die Reglung der Lehrlingsprüfungen nicht
in gewerbegesetzlicher Ordnung erfolgt ist, sondern
durch fakultative Maßnahmen der Gewerbever-
eine usw. Nur der Kanton Neuenburg hat am
21. Nov. 1890 ein Gesetz zum Schutze der Lehr-
linge erlassen, das die Prüfungen obligatorisch
macht, während nach dem Gesetze des Kantons
Waadt vom 1. Mai 1897 ab alle Lehrverträge
Staatslexikon. III. 3. Aufl.
Lehrlings= und Gesellenwesen.
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sowohl im Handwerke als in der Industrie und
im Handel diesem unterliegen. Im übrigen be-
stimmt es die Schriftlichkeit des Lehrvertrages,
Versicherung des Lehrlings gegen Unfall, Be-
schränkung der Arbeitszeit desselben auf zehn
Stunden; es regelt ferner die Prüfungen. Im
allgemeinen haben die Lehrlingsprüfungen in der
Schweiz jedoch bedeutende Erfolge zu erzielen ver-
mocht, da das Industriedepartement des Bundes
den „schweizerischen Gewerbeverein“, der das Ziel
verfolgt, das gewerbliche Lehrlingswesen möglichst
einheitlich zu regeln, kräftig unterstützt. Die Lei-
tung der schweizerischen, Lehrlingsprüfungen ist
einer vom genannten Verein gewählten, aus sieben
Mitgliedern bestehenden Zentralprüfungskommis-
sion übertragen. Man strebt seitens des genannten
Vereins, die gesetzliche Reglung der Lehrlings-
prüfungen in allen Kantonen durchzuführen; ver-
schiedene große Meistervereinigungen, so der Bäcker,
Buchdrucker, Metzger usw., haben die Prüfungen
bereits eingeführt.
Das Lehrlingswesen in Frankreich ähnelte
vor der Revolution von 1792 dem Lehrlingswesen
der deutschen Zunft. Nachdem die Zünfte durch
die Revolution weggeschwemmt waren, ging auch
das Lehrlingswesen schnell einem derartigen Ver-
fall entgegen, daß bereits am 22. Germinal des
Jahres XII teilweise notwendig wieder eine gesetz-
liche Reglung desselben erfolgen mußte; diese ge-
schah indessen nur teilweise, und zwar hinsichtlich
der Manufakturen und Fabriken. Aber das ge-
nügte nicht. Obgleich die Wirksamkeit des Gesetzes
in einer langen Periode versucht wurde, so sah
man sich dennoch genötigt, am 4. März 1851 ein
neues Gesetz zu erlassen. Dasselbe hält die Frei-
heit des Lehrvertrags fest, sucht aber durch eine
Reihe von Bestimmungen den Lehrling zu schützen.
Die Wirkung des Gesetzes ist jedoch verfehlt, da
die Ausbildung der Lehrlinge ohne Erfolg ge-
blieben ist. Um die Klagen über das Lehrlings-
wesen zu beseitigen, hat man durch Gesetz vom
11. Dez. 1880 Fachschulen und Lehrwerkstätten
über das ganze Land zu verbreiten gesucht. Daneben
streben Lehrlingsschutzgesellschaften den Schutz der
Lehrlinge an. Die Resultate sind jedoch nicht be-
friedigend.
In England finden sich bereits im 14. Jahrh.
Vorschriften der Zünfte über das Lehrlingswesen.
Die erste Kodifizierung der Bestimmungen fand
bereits 1562 statt. Seit 1814 hat sich der eng-
lische Staat jedoch überhaupt nicht mehr um das
Lehrlingswesen bekümmert; rechtlich besteht kein
Lehrlingszwang und keine Beschränkung der Zahl
der von den einzelnen Lehrherren und Arbeitgebern
anzunehmenden Lehrlinge; indessen wird in der
Wirklichkeit eine Reglung des Lehrlingswesens
durch die Gewerkvereine so weit als möglich durch-
geführt.
Literatur. P. Adler, Die Lage der Hand-
lungsgehilfen (1900); G. Adler, Die Sozialreform
u. der Kaufmannsstand (1891); G. Hiller, Die
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