Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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hältnisses zwischen Meister und Gesellen. An 
Stelle der Interessengemeinschaft treten jetzt 
Interessengegensätze und verschärfte soziale Diffe- 
renzierung. 
ie Gesellen ziehen die Konsequenz aus ihrer 
Abdrängung von der Selbständigmachung und 
beanspruchen reichlichere Lohnabfindungen, kürzere 
Arbeitszeit usw. sowie eine Reihe von bestimmten 
persönlichen Freiheiten. Da das nicht gewährt 
wird, so schließen sie sich mehr und mehr zunächst 
zu lokalen, dann interlokalen und internationalen 
Verbänden zusammen. Es wurde ihnen dieses 
um so leichter, als die meisten derselben bereits 
kirchlichen Bruderschaften angehörten und durch 
die Wanderschaft Beziehungen zu fernstehenden 
Organisationen anknüpfen konnten. Je nach ört- 
licher Erstarkung der Gesellenverbände nimmt der 
Kampf zwischen Meister= und Gesellenschaft einen 
verschiedenartigen, jedoch zumeist infolge ihrer 
interlokalen und internationalen Verbreitung für 
die Gesellen günstigen Verlauf bis in die Mitte 
des 16. Jahrhunderts. 
Mit Entwicklung der Gesellenverbände setzte 
die soziale Differenzierung in verschärfter Form 
ein, und damit ist die Entwicklung des Klassen- 
kampfes gegeben, und nunmehr steht der Geselle 
nicht mehr als gleichwertiger Arbeitsgenosse und 
einstiger Nachfolger des Meisters da, sondern als 
Arbeiter im scharfen Gegensatze zum Meister als 
Arbeitgeber. (Näheres s. Art. Handwerk.) 
2. Die Gesellen verbände entwickelten sich 
schon sehr früh, wahrscheinlich bald nach der 
Städtebildung mit dem Ausbau der Zunft, zu- 
nächst jedoch wohl nur als kirchliche Bruderschaf- 
ten mit ausgesprochen religiösem und charitativem 
Charakter gegenüber erkrankten Gliedern. Erst 
später, als das Verhältnis der Gesellen zu den 
Miistern sich zu schärfen beginnt, entstehen daneben 
außerkirchliche Verbände. Während die Meister 
den kirchlichen Bruderschaften im allgemeinen 
günstig gegenüberstehen, weil sie die Gesellen in 
Zucht halten und ihnen daneben einen Teil ihrer 
sozialen Pflichten gegenüber den erkrankten Ge- 
sellen abnehmen, ist dieses gegenüber den weltlichen 
Verbänden nicht der Fall. Diese sind zum Teil 
unter heftigem Widerstande der Meister gegründet, 
vorerst jedoch weniger zum Zwecke gemeinsamer 
Interessenvertretung denn als gesellige Verbände; 
später erst hebt sich die genossenschaftliche Inter- 
essenvertretung immer schärfer hervor und wird 
nach und nach zur Hauptsache. Mit der Zeit 
nehmen auch die kirchlichen Bruderschaften zum 
Teil gleichen bzw. ähnlichen Charakter an. 
Die Organisation der Gesellenverbände 
war gleich der der Zünfte. Sie waren Zwangs- 
korporationen und hatten eigne Statuten und 
Rollen; sie wählten eigne Vorstände aus ihrer 
Mitte und übten in genossenschaftlichen Angelegen- 
heiten eigne Gerichtsbarkeit; sie erhoben Beiträge 
und Strafgelder. Die Altgesellen als Vorsitzende 
sind die Leiter, ihnen zur Seite stehen Fürgesellen 
Lehrlings= und Gesellenwesen. 
  
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für das Wanderwesen, Nebengesellen zur Abhal- 
tung der Umfragen, Ladengesellen zur Uberwachung 
der Gesellenlade, Beisitzer, Meisterknechte usw. Alle 
werden mit verschiedener Amtsdauer von der Ge- 
samtheit gewählt. — Der Mittelpunkt war die 
Ürte, die Trinkstube, Herberge; hier war die Kon- 
zentration des Verkehrs, hier sprachen die Gesellen 
unter sich Recht und gegenüber den Meistern. 
Ihre „Gerichtsbarkeit“, dieser Zankapfel bei allen 
Genossenschaften, das Palladium auch der Ge- 
sellenverbände, war durch Jahrhunderte ein Gegen- 
stand erbitterter Kämpfe zwischen den Arbeitern 
auf der einen, den Meistern und den städtischen 
Obrigkeiten auf der andern Seite. „So unschein- 
bar sie auch erscheint, so bedeutungsvoll war sie 
in den Händen der Gesellen. Die Gewalt, das 
Urteil vor Genossen zu fragen und zu finden, 
Strafen zu verhängen und zu vollstrecken, die 
Möglichkeit, auf diese Art eine eiserne Disziplin 
zu üben und das Bewußtsein der Zusammen- 
gehörigkeit zu wecken und zu pflegen, die Schulung 
in der Pflichterfüllung gegenüber der Genossen- 
schaft, die Erziehung zur Standesehre, der Drill 
zum Korpsgeist, das sind sozialpädagogische Mo- 
mente von hervorragender Wichtigkeit“ (B. Schön- 
lank). Die Grundlage dieser Erfolge war die 
Schaffung besserer Arbeitsbedingungen für die Ge- 
sellen (vgl. d. Art. Handwerk). Das ganze 15. Jahrh. 
und ein Teil des 16. Jahrh. war eine Ara der 
Lohnkämpfe; diese sowie Reglung der Arbeitszeit 
und des Arbeitsvertrags in Verbindung mit ihrer 
großartigen interlokalen Organisation, welche die 
der Meister unendlich weit überragte und gegen 
Ende des 16. Jahrh. sich über ganz Deutschland 
erstreckte, bildeten den Kitt der Gesellenverbände. 
Die Kämpfe der Gesellenverbände hatten dort zum 
großen Teil Erfolg, wo die Gesellenschaft ge- 
schlossen ihre Forderungen durchsetzen konnte; wo“ 
dagegen die Meister den einzelnen Gesellen gegen- 
überstanden, unterlagen diese. 
Die von der Obrigkeit und der Meisterschaft 
versuchte Unterdrückung der sich immer mehr zu 
gewerkschaftlichen Verbänden entwickeln- 
den Gesellenverbände war im allgemeinen jedoch 
ohne Erfolg; ihre allseitige Anerkennung erfolgte in 
der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Das Ge- 
sellenrecht ward kodifiziert und dadurch zu einem 
Bestandteile des städtischen Gewerberechts. Die 
anerkannten Verbände traten nunmehr in die 
Blüteperiode ein. Diese ist jedoch nicht von langer 
Dauer sie fällt etwa in die Zeit von 1475/1590, 
örtlich jedoch sehr verschieden. — Nunmehr setzt 
eine Periode der Stagnation ein, welche der Vor- 
läufer des beginnenden Verfalls ist. Die gewerb- 
lichen Umwälzungen des 16. Jahrh., besonders 
das allmähliche Einsetzen der kapitalistischen Pro- 
duktionsweise, die Veränderung der Verkehrswege, 
die Ausdehnung des Marktes, die Entwertung 
des Geldes durch die ÜUberschwemmung Europas 
mit Edelmetall, die kirchlichen Wirren usw., alle 
diese Momente zusammen wirken dahin, daß eine
	        
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