Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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gibt, nach dessem Werte Geld vorgeschossen, und 
so ist der Vorwurf der Gegner, daß diese Institute 
ebensosehr, wie sie dem Bedürftigen Hilfe schaffen, 
auch dem leichtsinnigen Schuldenmachen Vorschub 
leisten, durchaus begründet. Man wird nicht fehl- 
gehen, wenn man den Zusammenbruch mancher 
Existenzen in seinen Anfängen auf die erste In- 
anspruchnahme des Leihhauses zurückführt, nicht 
bloß in Fällen des Leichtsinnes, sondern auch da, 
wo die Not zur Anleihe zwang. Die Einlösung 
des Pfandes ist bei Personen, die auf ihren 
Tagesverdienst angewiesen sind, bei denen daher 
an eine Ersparnis kaum zu denken ist, sehr schwer, 
und wenn es sich gar um den Unterhalt einer 
ganzen Familie handelt, oft unmöglich. Das 
Pfand, vielleicht ein Kleidungsstück, ein Bett, 
kann zur Verfallzeit nicht eingelöst werden und 
wird versteigert durchweg zu einem Preise unter 
dem Wert. Da es nicht entbehrt werden kann, muß 
es neu angeschafft werden zu höherem Preise und 
meistens noch auf Borg. Der zweite Gang zum 
Pfandhause muß bald geschehen, es folgt der dritte 
und weitere, und an ein Herauskommen aus der 
Notlage ist nicht mehr zu denken. 
Diese Übelstände, die das Leihwesen mit sich 
bringt, und die bedenklicher werden, je weniger es 
sich bei der Inanspruchnahme des Leihhauses um 
Aushilfe in wirklicher Not als vielmehr um leicht- 
fertiges Schuldenmachen handelt, haben gewiß 
ihre große Bedeutung für die Frage nach dem 
ökonomischen, sozialen und moralischen Wert der 
Leihanstalten; allein es wäre zu weit gegangen, 
nun wegen dieser Übelstände das ganze Institut 
zu verurteilen und seine Beseitigung zu verlangen. 
Der wirklichen Kreditbedürftigkeit, die doch nun 
einmal bei vielen Personen besteht und nicht be- 
seitigt werden kann, muß Gelegenheit zur Be- 
friedigung gegeben werden. Die Beseitigung der 
hierfür bestehenden öffentlichen Anstalten würde 
daher nur ein Anwachsen der Privatleihgeschäfte 
zur Folge haben. Es kann sich daher nur fragen, 
ob die letzteren den öffentlichen Leihhäusern vor- 
zuziehen sind. Dies aber ist unzweifelhaft zu ver- 
neinen. Während bei den öffentlichen Anstalten 
Zweck und Kontrolle jede wucherische Ausbeutung 
durchaus ausschließen, ist dies bei den lediglich 
des Gewinnes halber betriebenen Privatleih- 
geschäften keineswegs der Fall, da hier erfahrungs- 
mäßig selbst die strengste gesetzliche Kontrolle 
geheime wucherische Geschäfte nicht zu hindern 
vermag. Mit der Aufhebung der öffentlichen Leih- 
häuser würden somit nicht nur die gerügten Übel- 
stände nicht beseitigt, sondern es würde noch die 
Gefahr der wucherischen Ausbeutung hinzukommen 
oder doch erheblich vermehrt werden. Daß die 
gegenwärtige Organisation der Leihhäuser besse- 
rungsbedürftig ist, namentlich nach der Richtung 
bin, daß jetzt ohne jede Prüfung jedem, der sich 
meldet, Darlehen gegeben werden und die Pfand- 
scheine veräußerlich sind, ist bereits hervorgehoben 
worden; der vollständigen Beseitigung der öffent- 
  
Le Play. 
  
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lichen Leihhäuser aber das Wort zu reden, hieße 
von zwei Ubeln das größere wählen. 
Literatur. Blaize, Des monts de piété et 
des banques de pret (1856); Würzburger, Die 
öffentlichen L., im Statistischen Jahrbuch deutscher 
Städte II (1892) u. die folgenden Bände; Hack, 
Ülber öffentliche L., in der Zeitschrift für Staats- 
wissenschaft XVII (1871) 70 ff; Schmoller, Jahr- 
buch für Gesetzgebung IV (1880) 87 f; Holz- 
apfel O. F. M., Die Anfänge der Montes pietatis 
1462/1515 (1903); Löffler, Die gewerbliche u. 
private Pfandleihe nach geltendem Reichs= u. Lan- 
desrecht (1908). [Roeren.)] 
Le Play, Pierre Guillaume Frédkric 
(1806/82), der bedeutenkdste französische Sozial- 
theoretiker der Neuzeit, hervorragender Vertreter 
der christlichen Sozialwissenschaft. 
l[Jugend; Studien= und Erziehungsgang; Ent- 
stehung und Weiterbildung seiner sozialen An- 
schauungen; Hauptwerke: Entstehen und Ideen- 
olge; Beziehungen zu Napoleon III.; Letzte 
Arbeiten; Seine Schule; Sozialtheorie; Das 
Eigentum und die Erbteilung; Familienreform; 
Die Arbeitsorganisation und der Patronage; Die 
Methode.). 
Le Play, geboren den 11. April 1806 zu 
Rivières-Saint-Sauveur, einer Fischerkolonie bei 
Honfleur, aus einer Zollbeamtenfamilie der unteren 
Seine, erhielt durch eine vortreffliche Mutter eine 
echt christliche Erziehung, von welcher er später 
(Ouvriers européens 1 590) selbst schrieb: „Ich 
verdanke den Lehren meiner guten Mutter die Ge- 
sinnungen, welche mich in einem Leben voll harter 
Arbeit aufrecht gehalten haben: die Hochachtung 
vor Gott, Genügsamkeit, Arbeitsliebe, Hingebung 
an das Gute.“ Ein vorübergehender Aufenthalt 
in Paris (seit 1811) nach dem Tode seines Vaters 
prägte dem außerordentlich geweckten Knaben einen 
tiefen Widerwillen gegen die überall noch sicht- 
baren Verwüstungen der Revolution ein. Als er 
am Tage des zweiten Einzuges der Alliierten in 
Paris nach Honfleur zurückkehren mußte, nahm 
er nach eignem Geständnisse (a. a. O.) die Er- 
fahrung fürs Leben mit, daß „nur die Religion, 
der Friede und die Beobachtung der nationalen 
Gewohnheiten das Glück eines Volkes sichern“. 
In Honfleur bei der Mutter vollendete er vorab 
seine religiöse Ausbildung (1816), bei ihr sodann 
in Havre als Externer des dortigen Kollegs seine 
humanistischen Studien. Die ersten Versuche zur 
Erlangung einer durch die bedrängte Lage der 
Familie gebotenen Lebensstellung bei einem Land- 
messer, dann bei einem Ingenieur beförderten 
zwar seine Neigung zu einem praktischen, wirt- 
schaftlichen Lebensberuse, aber nicht sein hoch- 
fliegendes wissenschaftliches Streben. Die zu frühe 
Beschäftigung mit der Skepsis von Montaigne 
hatte in ihm, wenn nicht methodischen, so doch den 
praktischen Zweifel an den ihm eingeflößten sozialen 
Lehren und Ideen wachgerufen, d. h. ihm die Not- 
wendigkeit nahegelegt, deren Wahrheit auf die 
scharfe Beobachtung der Tatsachen des wirklichen 
 
	        
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