829
gibt, nach dessem Werte Geld vorgeschossen, und
so ist der Vorwurf der Gegner, daß diese Institute
ebensosehr, wie sie dem Bedürftigen Hilfe schaffen,
auch dem leichtsinnigen Schuldenmachen Vorschub
leisten, durchaus begründet. Man wird nicht fehl-
gehen, wenn man den Zusammenbruch mancher
Existenzen in seinen Anfängen auf die erste In-
anspruchnahme des Leihhauses zurückführt, nicht
bloß in Fällen des Leichtsinnes, sondern auch da,
wo die Not zur Anleihe zwang. Die Einlösung
des Pfandes ist bei Personen, die auf ihren
Tagesverdienst angewiesen sind, bei denen daher
an eine Ersparnis kaum zu denken ist, sehr schwer,
und wenn es sich gar um den Unterhalt einer
ganzen Familie handelt, oft unmöglich. Das
Pfand, vielleicht ein Kleidungsstück, ein Bett,
kann zur Verfallzeit nicht eingelöst werden und
wird versteigert durchweg zu einem Preise unter
dem Wert. Da es nicht entbehrt werden kann, muß
es neu angeschafft werden zu höherem Preise und
meistens noch auf Borg. Der zweite Gang zum
Pfandhause muß bald geschehen, es folgt der dritte
und weitere, und an ein Herauskommen aus der
Notlage ist nicht mehr zu denken.
Diese Übelstände, die das Leihwesen mit sich
bringt, und die bedenklicher werden, je weniger es
sich bei der Inanspruchnahme des Leihhauses um
Aushilfe in wirklicher Not als vielmehr um leicht-
fertiges Schuldenmachen handelt, haben gewiß
ihre große Bedeutung für die Frage nach dem
ökonomischen, sozialen und moralischen Wert der
Leihanstalten; allein es wäre zu weit gegangen,
nun wegen dieser Übelstände das ganze Institut
zu verurteilen und seine Beseitigung zu verlangen.
Der wirklichen Kreditbedürftigkeit, die doch nun
einmal bei vielen Personen besteht und nicht be-
seitigt werden kann, muß Gelegenheit zur Be-
friedigung gegeben werden. Die Beseitigung der
hierfür bestehenden öffentlichen Anstalten würde
daher nur ein Anwachsen der Privatleihgeschäfte
zur Folge haben. Es kann sich daher nur fragen,
ob die letzteren den öffentlichen Leihhäusern vor-
zuziehen sind. Dies aber ist unzweifelhaft zu ver-
neinen. Während bei den öffentlichen Anstalten
Zweck und Kontrolle jede wucherische Ausbeutung
durchaus ausschließen, ist dies bei den lediglich
des Gewinnes halber betriebenen Privatleih-
geschäften keineswegs der Fall, da hier erfahrungs-
mäßig selbst die strengste gesetzliche Kontrolle
geheime wucherische Geschäfte nicht zu hindern
vermag. Mit der Aufhebung der öffentlichen Leih-
häuser würden somit nicht nur die gerügten Übel-
stände nicht beseitigt, sondern es würde noch die
Gefahr der wucherischen Ausbeutung hinzukommen
oder doch erheblich vermehrt werden. Daß die
gegenwärtige Organisation der Leihhäuser besse-
rungsbedürftig ist, namentlich nach der Richtung
bin, daß jetzt ohne jede Prüfung jedem, der sich
meldet, Darlehen gegeben werden und die Pfand-
scheine veräußerlich sind, ist bereits hervorgehoben
worden; der vollständigen Beseitigung der öffent-
Le Play.
830
lichen Leihhäuser aber das Wort zu reden, hieße
von zwei Ubeln das größere wählen.
Literatur. Blaize, Des monts de piété et
des banques de pret (1856); Würzburger, Die
öffentlichen L., im Statistischen Jahrbuch deutscher
Städte II (1892) u. die folgenden Bände; Hack,
Ülber öffentliche L., in der Zeitschrift für Staats-
wissenschaft XVII (1871) 70 ff; Schmoller, Jahr-
buch für Gesetzgebung IV (1880) 87 f; Holz-
apfel O. F. M., Die Anfänge der Montes pietatis
1462/1515 (1903); Löffler, Die gewerbliche u.
private Pfandleihe nach geltendem Reichs= u. Lan-
desrecht (1908). [Roeren.)]
Le Play, Pierre Guillaume Frédkric
(1806/82), der bedeutenkdste französische Sozial-
theoretiker der Neuzeit, hervorragender Vertreter
der christlichen Sozialwissenschaft.
l[Jugend; Studien= und Erziehungsgang; Ent-
stehung und Weiterbildung seiner sozialen An-
schauungen; Hauptwerke: Entstehen und Ideen-
olge; Beziehungen zu Napoleon III.; Letzte
Arbeiten; Seine Schule; Sozialtheorie; Das
Eigentum und die Erbteilung; Familienreform;
Die Arbeitsorganisation und der Patronage; Die
Methode.).
Le Play, geboren den 11. April 1806 zu
Rivières-Saint-Sauveur, einer Fischerkolonie bei
Honfleur, aus einer Zollbeamtenfamilie der unteren
Seine, erhielt durch eine vortreffliche Mutter eine
echt christliche Erziehung, von welcher er später
(Ouvriers européens 1 590) selbst schrieb: „Ich
verdanke den Lehren meiner guten Mutter die Ge-
sinnungen, welche mich in einem Leben voll harter
Arbeit aufrecht gehalten haben: die Hochachtung
vor Gott, Genügsamkeit, Arbeitsliebe, Hingebung
an das Gute.“ Ein vorübergehender Aufenthalt
in Paris (seit 1811) nach dem Tode seines Vaters
prägte dem außerordentlich geweckten Knaben einen
tiefen Widerwillen gegen die überall noch sicht-
baren Verwüstungen der Revolution ein. Als er
am Tage des zweiten Einzuges der Alliierten in
Paris nach Honfleur zurückkehren mußte, nahm
er nach eignem Geständnisse (a. a. O.) die Er-
fahrung fürs Leben mit, daß „nur die Religion,
der Friede und die Beobachtung der nationalen
Gewohnheiten das Glück eines Volkes sichern“.
In Honfleur bei der Mutter vollendete er vorab
seine religiöse Ausbildung (1816), bei ihr sodann
in Havre als Externer des dortigen Kollegs seine
humanistischen Studien. Die ersten Versuche zur
Erlangung einer durch die bedrängte Lage der
Familie gebotenen Lebensstellung bei einem Land-
messer, dann bei einem Ingenieur beförderten
zwar seine Neigung zu einem praktischen, wirt-
schaftlichen Lebensberuse, aber nicht sein hoch-
fliegendes wissenschaftliches Streben. Die zu frühe
Beschäftigung mit der Skepsis von Montaigne
hatte in ihm, wenn nicht methodischen, so doch den
praktischen Zweifel an den ihm eingeflößten sozialen
Lehren und Ideen wachgerufen, d. h. ihm die Not-
wendigkeit nahegelegt, deren Wahrheit auf die
scharfe Beobachtung der Tatsachen des wirklichen