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Lebens hin zu prüfen, eine Denk= und Geistes-
richtung, die sich im Verlaufe des höheren Schul-
lebens so sehr befestigte, daß die lebenslange Vor-
liebe für das Selbstbeobachtete, Selbsterlebte,
Experimentale fortan feststand.
Anfang 1824 kam Le Play dauernd nach Paris,
besuchte, überall mit glänzendem Erfolge, das
Kolleg Saint-Louis, die polytechnische Schule und
die Bergakademie, verließ letztere mit der höchsten
von ihr bis dahin erteilten Auszeichnung und trat
1829 die mit dem Studienabschluß verbundene
praktische 200tägige Studienreise (6800 km) an
behufs Berichterstattung an die Akademie über die
technischen, wirtschaftlichen und sozialen Institu-
tionen, Erwerbszweige usw. des bereisten Distriktes.
Diesmal ging die vorgeschriebene Reiseroute nach
Norddeutschland, dem minenreichen Harze, den
gewerbfleißigen braunschweig-hannoverschen Di-
strikten. Was Le Play hier sah, die Ruhe und
gesetzmäßige Entwicklung der Erwerbs= und Ar-
beitsverhältnisse, stand in scharfem Gegensatz zum
sozialen Umsturz und der nicht endenden Agitation
daheim. Seine sittenreine, ebenso arbeitsvolle
wie arbeitsfreudige Jugend, namentlich auch der
vorbildliche Einfluß so großer wissenschaftlicher
Charaktere wie sein Lehrer J. J. Ampere hatten
ihn bei aller Neigung zur wissenschaftlichen Skepsis
auf christlich -gläubigem Boden erhalten. Die
hochgehende sozialpolitische Agitation der Juli-
revolution, die Saint-Simonistischen Lehren und
die wilden Träumereien und Versuche ihrer So-
zialreformen brachten in ihm den Entschluß zur
Reife, neben dem Berufsstudium der Metallurgie
sein Leben der Erforschung der sozialen
Wahrheit auf Grund der von ihm angenom-
menen positiven Methode zu widmen. Ein
hartes Schicksal, schwere Verletzungen, namentlich
der Augen, gelegentlich eines mißglückten Experi-
mentes im chemischen Laboratorium der Berg-
akademie, zu dessen Vorsteher er ernannt worden
war, warf ihn für lange Monate aufs Kranken-
lager, auf welchem er in den Schreckenstagen des
Juli 1830 das Gelübde erneuerte, sich bei voller
Wiederherstellung der Errettung seines Volkes aus
den Leiden der Revolution zu weihen und zu dem
Zwecke in jedem Jahre 6 Monate für soziologische
Studien auf Reisen zu verwenden, um durch eigne
Beobachtung die glücklicheren Völker der Erde und
die Ursachen ihres Glückes zu erforschen. Fortan bil-
dete das Reisen im sozialen Reformplane Le Plays
selbst wie seiner Schule einen wesentlichen Faktor
nach dem Descartesschen Worte: „Ich verbrachte
meine Jugend mit Reisen, immer war bei mir der
Wunsch äußerst lebhaft, die Unterscheidung des
Wahren von dem Falschen zu erlernen, um klar
in meine Handlungen zu schauen und mit Sicher-
heit meinen Lebensweg zu gehen“ (Discours de
la Méthode).
Le Play begann seine Forschungsreisen mit der
Beobachtung der Fischer des Golfs von Biscaya
und der Bauern der kastilischen Hochebene und
Le Play.
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dehnte sie nach und nach aus bis in die Kirgisen-
steppen und den asiatischen Ural. Bis zum Jahre
1854 legte er ca 70 000 Meilen zurück, darunter
22000 in Begleitung eines Freundes (Saint-
Léger), meist zu Fuß, unter allen Beschwerden der
damaligen Wege. Ein ungeheures, bis dahin für
wissenschaftliche Beobachtung fast verschlossenes
Material an kulturellen, soziologischen Beobach-
tungen und Forschungen, an Dokumenten geschicht-
licher, wirtschaftlicher, religiöser Art, an Einzel-
studien lokaler und allgemeiner Tatsachen, an
Entwürfen für die Wissenschaft der vergleichenden
Soziologie war angesammelt. Grundlegend waren
die Beobachtungen des englischen Arbeiterlebens
(Northumbrien) in seinen freien, des deutschen
(Harz) in seinen mehr gebundenen Sozialverhält-
nissen. Im Jahre 1855 erschienen Le Plays
Ouvriers europbens in der Pracht-
ausstattung der kaiserlichen Druckerei, von der
Academie des sciences preisgekrönt, das bahn-
brechende erste Hauptwerk der Forschungen Le
Plays in der sorgsamsten Darlegung der Arbeits-
und Lebensverhältnisse von (36) Familientypen
der verschiedensten Länder= und Kulturstufen, der
Regeln, Einrichtungen und Überlieferungen, in
denen das dauernd wahre Volkswohl sich ver-
körpert. Ohne auf einzelnes, wie die Notwendig-
keit der Dauer unserer heutigen Arbeitsverhältnisse
als einer Hauptgrundlage für das Wohl der Ar-
beiter wie Arbeitgeber wie für die Arbeit selbst
und ihre Vervollkommnung, ferner die schlimmen
sozialen Folgen der Erbfolge des Code civil usw.,
einzugehen, sei hier auf ein Hauptresultat des
Buches hingewiesen, welches auf Le Play und seine
Umgebung fast wie eine Offenbarung einwirkte,
so tief lag es unter dem Schutte der Revolution
und ihrer Erbin, der liberalen Aufklärung, be-
graben: die allgemeine, nun mit wissenschaftlicher
Überzeugungstreue dargelegte Tatsache, daß nicht
die Ideen von 1789, sondern die positive Reli-
gion, vor allem die christliche, überall da, wo sie
sich in praktischer Religiosität verinnerlicht, allein
das soziale Wohl der Gesellschaft be-
gründen könne.
Das Staunen über dieses Forschungsergebnis
darf nicht auffallen. Weder der antichristliche
Cäsarismus des ersten Kaiserreiches noch der
Pseudokonservatismus der Restauration noch der
religionsfeindliche Liberalismus des Julikönig-=
tums hatten der fortwuchernden Propaganda der
atheistischen Prinzipien von 1789 eine wirksame
Schranke entgegenzustellen vermocht. Erst mit der
Juliregierung und der Erhebung der Lamennais-
schen Schule war dies in dem großen Kampf der
Katholiken um ihr Verfassungsrecht auf dem Ge-
biete der Schule und Kirche möglich geworden.
Ein allmählicher Umschwung der sozialen und
politischen Ideen hatte Platz gegriffen; wie weit
er gediehen, zeigten Le Plays Ouvriers euro-
péens mit dem Erweise der Notwendigkeit der
Religion für den sozialen Fortschritt. Über die