Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

831 
Lebens hin zu prüfen, eine Denk= und Geistes- 
richtung, die sich im Verlaufe des höheren Schul- 
lebens so sehr befestigte, daß die lebenslange Vor- 
liebe für das Selbstbeobachtete, Selbsterlebte, 
Experimentale fortan feststand. 
Anfang 1824 kam Le Play dauernd nach Paris, 
besuchte, überall mit glänzendem Erfolge, das 
Kolleg Saint-Louis, die polytechnische Schule und 
die Bergakademie, verließ letztere mit der höchsten 
von ihr bis dahin erteilten Auszeichnung und trat 
1829 die mit dem Studienabschluß verbundene 
praktische 200tägige Studienreise (6800 km) an 
behufs Berichterstattung an die Akademie über die 
technischen, wirtschaftlichen und sozialen Institu- 
tionen, Erwerbszweige usw. des bereisten Distriktes. 
Diesmal ging die vorgeschriebene Reiseroute nach 
Norddeutschland, dem minenreichen Harze, den 
gewerbfleißigen braunschweig-hannoverschen Di- 
strikten. Was Le Play hier sah, die Ruhe und 
gesetzmäßige Entwicklung der Erwerbs= und Ar- 
beitsverhältnisse, stand in scharfem Gegensatz zum 
sozialen Umsturz und der nicht endenden Agitation 
daheim. Seine sittenreine, ebenso arbeitsvolle 
wie arbeitsfreudige Jugend, namentlich auch der 
vorbildliche Einfluß so großer wissenschaftlicher 
Charaktere wie sein Lehrer J. J. Ampere hatten 
ihn bei aller Neigung zur wissenschaftlichen Skepsis 
auf christlich -gläubigem Boden erhalten. Die 
hochgehende sozialpolitische Agitation der Juli- 
revolution, die Saint-Simonistischen Lehren und 
die wilden Träumereien und Versuche ihrer So- 
zialreformen brachten in ihm den Entschluß zur 
Reife, neben dem Berufsstudium der Metallurgie 
sein Leben der Erforschung der sozialen 
Wahrheit auf Grund der von ihm angenom- 
menen positiven Methode zu widmen. Ein 
hartes Schicksal, schwere Verletzungen, namentlich 
der Augen, gelegentlich eines mißglückten Experi- 
mentes im chemischen Laboratorium der Berg- 
akademie, zu dessen Vorsteher er ernannt worden 
war, warf ihn für lange Monate aufs Kranken- 
lager, auf welchem er in den Schreckenstagen des 
Juli 1830 das Gelübde erneuerte, sich bei voller 
Wiederherstellung der Errettung seines Volkes aus 
den Leiden der Revolution zu weihen und zu dem 
Zwecke in jedem Jahre 6 Monate für soziologische 
Studien auf Reisen zu verwenden, um durch eigne 
Beobachtung die glücklicheren Völker der Erde und 
die Ursachen ihres Glückes zu erforschen. Fortan bil- 
dete das Reisen im sozialen Reformplane Le Plays 
selbst wie seiner Schule einen wesentlichen Faktor 
nach dem Descartesschen Worte: „Ich verbrachte 
meine Jugend mit Reisen, immer war bei mir der 
Wunsch äußerst lebhaft, die Unterscheidung des 
Wahren von dem Falschen zu erlernen, um klar 
in meine Handlungen zu schauen und mit Sicher- 
heit meinen Lebensweg zu gehen“ (Discours de 
la Méthode). 
Le Play begann seine Forschungsreisen mit der 
Beobachtung der Fischer des Golfs von Biscaya 
und der Bauern der kastilischen Hochebene und 
Le Play. 
  
832 
dehnte sie nach und nach aus bis in die Kirgisen- 
steppen und den asiatischen Ural. Bis zum Jahre 
1854 legte er ca 70 000 Meilen zurück, darunter 
22000 in Begleitung eines Freundes (Saint- 
Léger), meist zu Fuß, unter allen Beschwerden der 
damaligen Wege. Ein ungeheures, bis dahin für 
wissenschaftliche Beobachtung fast verschlossenes 
Material an kulturellen, soziologischen Beobach- 
tungen und Forschungen, an Dokumenten geschicht- 
licher, wirtschaftlicher, religiöser Art, an Einzel- 
studien lokaler und allgemeiner Tatsachen, an 
Entwürfen für die Wissenschaft der vergleichenden 
Soziologie war angesammelt. Grundlegend waren 
die Beobachtungen des englischen Arbeiterlebens 
(Northumbrien) in seinen freien, des deutschen 
(Harz) in seinen mehr gebundenen Sozialverhält- 
nissen. Im Jahre 1855 erschienen Le Plays 
Ouvriers europbens in der Pracht- 
ausstattung der kaiserlichen Druckerei, von der 
Academie des sciences preisgekrönt, das bahn- 
brechende erste Hauptwerk der Forschungen Le 
Plays in der sorgsamsten Darlegung der Arbeits- 
und Lebensverhältnisse von (36) Familientypen 
der verschiedensten Länder= und Kulturstufen, der 
Regeln, Einrichtungen und Überlieferungen, in 
denen das dauernd wahre Volkswohl sich ver- 
körpert. Ohne auf einzelnes, wie die Notwendig- 
keit der Dauer unserer heutigen Arbeitsverhältnisse 
als einer Hauptgrundlage für das Wohl der Ar- 
beiter wie Arbeitgeber wie für die Arbeit selbst 
und ihre Vervollkommnung, ferner die schlimmen 
sozialen Folgen der Erbfolge des Code civil usw., 
einzugehen, sei hier auf ein Hauptresultat des 
Buches hingewiesen, welches auf Le Play und seine 
Umgebung fast wie eine Offenbarung einwirkte, 
so tief lag es unter dem Schutte der Revolution 
und ihrer Erbin, der liberalen Aufklärung, be- 
graben: die allgemeine, nun mit wissenschaftlicher 
Überzeugungstreue dargelegte Tatsache, daß nicht 
die Ideen von 1789, sondern die positive Reli- 
gion, vor allem die christliche, überall da, wo sie 
sich in praktischer Religiosität verinnerlicht, allein 
das soziale Wohl der Gesellschaft be- 
gründen könne. 
Das Staunen über dieses Forschungsergebnis 
darf nicht auffallen. Weder der antichristliche 
Cäsarismus des ersten Kaiserreiches noch der 
Pseudokonservatismus der Restauration noch der 
religionsfeindliche Liberalismus des Julikönig-= 
tums hatten der fortwuchernden Propaganda der 
atheistischen Prinzipien von 1789 eine wirksame 
Schranke entgegenzustellen vermocht. Erst mit der 
Juliregierung und der Erhebung der Lamennais- 
schen Schule war dies in dem großen Kampf der 
Katholiken um ihr Verfassungsrecht auf dem Ge- 
biete der Schule und Kirche möglich geworden. 
Ein allmählicher Umschwung der sozialen und 
politischen Ideen hatte Platz gegriffen; wie weit 
er gediehen, zeigten Le Plays Ouvriers euro- 
péens mit dem Erweise der Notwendigkeit der 
Religion für den sozialen Fortschritt. Über die
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.