Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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kirchlichen Autorität für das individuelle und so- 
ziale Leben hatte er noch keine Einsicht. Christen- 
tum und Kirche waren für ihn soziale Reform- 
institutionen von höchster Bedeutung, aber doch 
nur neben den andern von ihm erforschten. Weder 
die Zustimmung zu seinem Reformprogramm von 
höchster Seite noch die heftigsten Angriffe der 
liberalen Okonomisten und Sozialisten vermochten 
in Le Play fortan die Uberzeugung zu erschüttern, 
daß nur noch eine angestrengte, langsame und 
systematische Arbeit eine Anderung in den sozialen 
Anschauungen der Zeit und der leitenden Klassen 
herbeizuführen vermöge. Schon als Generalkom- 
missar der neuen Pariser Ausstellungen von 1862 
und 1867 wirkte er in diesem Sinne. Die im 
Lande steigende Klassenverhetzung und die un- 
verhüllt sich hervorwagenden Umsturztendenzen 
ließen ihn (Jan. 1870) auf Wunsch des Kaisers 
ein drittes Reformprogramm trotz der Erfahrungen 
von 1858 und 1867 ausarbeiten und nach dessen 
abermaliger Abweisung durch das Kabinett unter 
dem Titel Organisation du travail 
selon la coutume des ateliers et la loi du 
Decalogue veröffentlichen. Ausgehend von der 
durch die Beobachtung immer und überall fest- 
gestellten Unterscheidung des Guten und Bösen 
(in Lehre, Familie, Geschichte) bespricht Le Play 
die Ubung des Guten (im Hause, in der Werkstätte, 
in der Gemeinde, unter allen Regierungsformen), 
dann das Eindringen des Bösen (Charakter, Ur- 
sprung, allgemeine Verbreitung) und die Not- 
wendigkeit der Rückkehr zum Guten (Gott, väter- 
liche Autorität, Hochachtung des Weibes). Die 
Aufforderung an die Regierung, im Bunde mit 
der Kirche durch die endliche Verwirklichung des 
Programms von Bordeaux eine neue Reform- 
epoche gleich der Ludwigs XIII. anzubahnen, ver- 
hallte im Kriegslärm, im Untergange des zweiten 
Kaiserreiches, in der wilden Erhebung der Kom- 
munarden. 
Le Play verzagte nicht. Noch vor Ende 1871 
erschien sein neben der Organisation du travail 
wichtigstes, in der Darstellungsweise vielleicht bestes 
Buch: L’Organisation de la famille 
selon le vrai modele signalé par Thistoire de! 
toutes les races et de tous les temps, worin er 
die Rückkehr zur Stammfamilie (famille souche) 
im Gegensatz zur alten patriarchalischen und zur 
neuen unbeständigen (famille instable), d. i. der 
durch den Individualismus aufgelösten und durch 
seine Herrschaft stets mit Auflösung bedrohten 
Familie empfiehlt. Der Kern des Buches, die 
Beschreibung einer Musterfamilie des Lavedan 
(Hochpyrenäen), der Familie Melouga aus Cau- 
terets und ihrer Lage im Jahre 1856 ist ein un- 
übertreffliches Beispiel einer bis in die kleinsten 
Details der Budgets wie der Familiengeschichte 
durchgeführten soziologischen Untersuchung. Nie 
war das Vertrauen auf die Kirche so in 
seinen Sozialanschauungen hervorgetreten. Stand 
Le Play auch der Napoleonischen Einmischungs- 
  
  
Le Play. 
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politik in Sachen des Vatikanischen Konzils zau- 
dernd gegenüber, so hatte er doch seinem Jugend- 
freund, P. Gratry, gegenüber erklärt: „Die 
Infallibilität ist der höchste Ausdruck des Autori- 
tätsprinzips, und vom sozialen Gesichtspunkt ist 
die Annahme und Unterstützung ihrer Verkündi- 
gung Pflicht.“ In diesem Sinne arbeitete er 
weiter, auch als die Revolution des 4. Sept. alle 
Bande brach, welche ihn an die bisherige Regie- 
rung seines Landes fesselten. Seine Tätigkeit schien 
verdreifacht, jede neue Auflage der Ouvriers 
européens brachte neue Noten und Daten über 
die Ausbreitung des Umsturzes in der ganzen 
Welt. Er verlangte gegen ihn die Société inter- 
nationale du bien. Die Einsicht, daß diese in 
der katholischen Kirche vor ihm stehe, durchdrang 
ihn mehr und mehr, die Hingebung an seine 
Lebensaufgabe wuchs. „Seit neun Jahren weigere 
ich jeden andern Dienst“, schrieb er den 28. Aug. 
1879. „Fände ich heute einen Mann, der besser 
als ich die soziale Wahrheit lehrte, ich würde sein 
Lehrling.“ Seit Nov. 1879 siechte er hin, doch 
erholte er sich und schrieb die kleine Schrift La 
Constitution essentielle de I’humanité, das 
letzte Wort seiner lebenslangen Forschung, sein 
Testament. Es beginnt mit dem Geständnis: 
„Nachdem der Verfasser die wesentliche Verfassung 
des Menschengeschlechts dargelegt, ist er sich be- 
wußt, daß er nichts erfunden hat“; er schließt 
mit den Worten: „Nach einem langen Leben voll 
uneigennütziger, demselben Zwecke gewidmeter Ar- 
beiten ist mir das Glück beschieden, heute von 
zahlreichen Anhängern jene Ideen, die nicht ich 
erfunden, angenommen zu sehen; diese Ideen sind 
mir gleichsam diktiert worden durch die Geschichte 
der Vergangenheit und durch die Beobachtung der 
zeitgenössischen Völker. Ich glaube mich keiner 
Selbsttäuschung hinzugeben bei dem Gedanken, 
daß der schwierigste Teil der Arbeit heute getan 
ist. Die Methode ist begründet, ungeheure Ma- 
terialien sind gesammelt und geordnet, die Schule 
des sozialen Friedens hat die Lehrer für mein 
Werk gebildet und die periodische Presse hat sie 
der Offentlichkeit zu überliefern. Der Zeit, den 
Umständen, der Gewalt der Wahrheit, Gott über- 
lasse ich das übrige.“ In der innigsten Lebens- 
gemeinschaft mit der Kirche starb der große Denker 
den 13. April 1882 zu Paris. 
Die hohe Bedeutung der Le Playschen For- 
schung für die Sozialwissenschaft und Sozialbe- 
wegung erhielt unmittelbar nach seinem Tode die 
höchste Anerkennung. Drei Tage vor seinem Tode 
hatte Le Play gelegentlich der Übersendung einer 
Sammlung aller seiner Schriften und der „Schule 
des sozialen Friedens“ eine Adresse an Leo XIII. 
unterzeichnet, worin er sagte: Unsere Schule will 
durch die in den (Experimental-) Wissenschaften 
gebräuchliche Methode den Erweis für die Wahr- 
heit der überlieferten sozialen Lehren erbringen, 
um dadurch die notwendige Grundlage für das 
Glück der Völker nach der Norm des hl. Thomas:
	        
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