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miliengutes, die Fortpflanzung der ererbten Tra-
ditionen, die Förderung des Unternehmungsgeistes
durch Einführung der Familienmitglieder in ver-
schiedenartige Berufszweige und durch frühe
Weckung des Strebens nach wirtschaftlicher Selb-
ständigkeit, die sittliche Stärkung des Familien-
bandes im Gehorsam gegen den Vater, in der
Verehrung der Mutter und der Fürsorge für die
Töchter sind die Vorzüge dieses Familientypus.
Hinsichtlich der Organisation der Arbeit
steht Le Play prinzipiell auf der Grundlage der
freiheitlich entwickelten Privatinitiative. Die Be-
gründung der staatlichen Reglementierung der
Arbeit im Hinblick auf den modernen Pauperis-
mus verwirft er, da dieser, heute wie ehedem, eine
unwesentliche Begleiterscheinung jeder großen Ge-
sellschaftsevolution ist und der Staat in der Unter-
stützung der Privatinitiative, des Assoziations-=
wesens im weitesten Umfang und in Hebung der
Wohlfahrtspflege am erfolgreichsten seine Aufgabe
lösen muß, nicht aber in dem administrativen Ein-
greifen in das innere Arbeitsleben. Letzteres züchte
leicht die Bureaukratie und jenes Uberwuchern des
Beamtenwesens, welches, der Routine des Mittel-
mäßigen hold, dem sittlichen und technischen Fort-
schritte feind, die Herrschaft der Routine mit
Staatserhaltung verwechsle und die unerläßlichen
Reformen unterbinde. Auch das Arbeiter-Asso-
ziationswesen, insbesondere die Produktivge-
nossenschaften bieten an sich keine Garantie
für den Sieg des Reformgedankens, da sie mit
ihren Sonderzielen in eingeschränktem Wirkungs-
kreise des Gemeinsinnes meist entbehren, energi-
scher Führung hervorragender Mitglieder leicht
entraten und subversiven Tendenzen eher zustimmen
als selbstverleugnender Arbeit zur Selbsthilfe.
Desto höher steht bei Le Play der Patronage,
weil er, diskret mit Achtung vor der Persönlich-
keit und der Initiative der Arbeiter aus christlicher
Überzeugung, d. h. pflichtgemäß und mit Ent-
sagung geübt, das naturgemäße Verhältnis zwi-
schen Vorgesetzten und Untergebenen, Arbeitgebern
und Arbeitnehmern zum besten Ausdruck bringe.
Als wirksamstes Heilmittel gegen die Schäden der
Wirtschaftsfreiheit weist er dem Patronage die
Hauptarbeit an der Verwirklichung der sechsfachen
Grundbedingung für die Wiedererringung des
heute so unheilvoll zerrütketen sozialen Friedens
zu: in der Herstellung ständiger Arbeitsverhält-
nisse, in der wechselseitigen Verständigung über
den Lohn, in der Verbindung der Fabrikarbeit
mit der Haus= und Landarbeit, in der Förderung
der Sparsamkeit und der Fürsorge für die Nach-
kommen, in der Schaffung eines Eigenbesitzes,
namentlich eines kleinen Hauses, in dem Schutz
und in der Hochachtung der Frau und der Mutter.
Für öffentlichen Schutz der Kinder, der
jugendlichen Arbeiter, der Frauen wie der Arbeiter
gegen übermäßige Arbeit tritt Le Play ebenso ein
wie für den Schutz der lokalen Freiheiten und der
auf eigner Initiative beruhenden Institutionen
Le Play.
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nach dem Vorbilde Englands wie auch für die
Anwendung des hier hoch entwickelten Enquele-
wesens für alle Sozialgesetze. In der Verteidigung
seiner Lehre über Kolonisation, Selbstverwaltung
und die Grundlagen des heutigen Staatsverfas-
sungswesens war er ein ebenso scharfer Gegner der
Ideen von 1789 wie ein erleuchteter Reformer
nach den sozialen Anforderungen der Jetztzeit.
Was endlich die Methode der Le Playschen
Sozialforschung anlangt, so tritt hier vielleicht
in noch höherem Maße seine UÜberlegenheit über
die abstrakten Wirtschafts-- und Sozialtheoretiker
seiner Zeit hervor als in seiner Sozialtheorie.
Welchen Wert er auf das allseitige und gründliche
Studium der Methode legte, bezeugt die umfang-
reiche, für seine Schule (Mitte 1870) veröffent-
lichte Schrift: La Méthode sociale, ab-
régé des Ouvriers européens, ouvrage de-
stiné aux classes dirigeantes, ein Handbuch,
worin das für erfolgreiches soziales Wirken Un-
erläßliche (methodisches Reisen, wirtschaftliche und
soziale Studien, Gewerbe-, Ackerbau-, Verwal-
tungswesen), dann das Entstehen der Methode,
ihre Beschreibung und ihre Geschichte dargelegt
wird. Eine erschöpfende lexikalische Erklärung der
300 von Le Play für seine Sozialwissenschaft
stets gebrauchten Worte und Begriffe (S. 444
bis 559) bietet den Schlüssel zum Verständnis
und zur Beurteilung seiner einzig dastehenden
Lebensarbeit. Es tut ihrer Bedeutung keinen Ein-
trag, wenn wir im Anschluß an unsere Beleuch-
tung seines Lebens und seiner Methode hier auf
die Notwendigkeit ihrer Ergänzung durch das
Studium der aus der Vernunft= und der Offen-
barungslehre sich ergebenden Sozialprinzipien hin-
weisen. Soziale Tatsachen, in positiver Beobach-
tung festgestellt und erläutert, bieten für sich allein
in ihrer Konkretheit und Vereinzelung, in ihrer
Unvollständigkeit, in der Vieldeutigkeit der ihnen
zugrunde liegenden Ideen noch keine Soziallehre,
kein Sozialprinzip, keine Sozialwahrheit. Letztere
besteht und lebt für sich auch außerhalb der be-
obachteten Tatsachen, ohne Zutun der Beobach-
tung, unabhängig von ihr; sie ist die Voraus-
setzung der rechten Beobachtung und die sichere
Führerin ihrer Arbeit. Die beobachtete Tatsache
kann zur Auffindung und Anerkennung der so-
zialen Wahrheit führen; der Wert einer als wahr
festgestellten Tatsache beruht in der Übereinstim-
mung mit der ohne sie und außer ihr fortlebenden
sozialen Wahrheit; ein Widerspruch zwischen Lehre
und Tatsache ist auch auf sozialem Gebiete nur
möglich entweder bei unzuverlässiger Beobachtung
oder bei irriger Lehre. Der Einklang verbürgt die
soziale Wahrheit, die Grundlage aller Sozial-
reform. Daß Le Play in ihrer Erkenntnis auf
dem Wege der positiven Beobachtung der größte
bahnbrechende Apologet des 19. Jahrh. gewesen,
ist ebenso unbestreitbar, wie die bisherige Ver-
nachlässigung seiner Forschungen von seiten deut-
scher Soziologen tief beklagenswert bleibt. Die