Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

839 
miliengutes, die Fortpflanzung der ererbten Tra- 
ditionen, die Förderung des Unternehmungsgeistes 
durch Einführung der Familienmitglieder in ver- 
schiedenartige Berufszweige und durch frühe 
Weckung des Strebens nach wirtschaftlicher Selb- 
ständigkeit, die sittliche Stärkung des Familien- 
bandes im Gehorsam gegen den Vater, in der 
Verehrung der Mutter und der Fürsorge für die 
Töchter sind die Vorzüge dieses Familientypus. 
Hinsichtlich der Organisation der Arbeit 
steht Le Play prinzipiell auf der Grundlage der 
freiheitlich entwickelten Privatinitiative. Die Be- 
gründung der staatlichen Reglementierung der 
Arbeit im Hinblick auf den modernen Pauperis- 
mus verwirft er, da dieser, heute wie ehedem, eine 
unwesentliche Begleiterscheinung jeder großen Ge- 
sellschaftsevolution ist und der Staat in der Unter- 
stützung der Privatinitiative, des Assoziations-= 
wesens im weitesten Umfang und in Hebung der 
Wohlfahrtspflege am erfolgreichsten seine Aufgabe 
lösen muß, nicht aber in dem administrativen Ein- 
greifen in das innere Arbeitsleben. Letzteres züchte 
leicht die Bureaukratie und jenes Uberwuchern des 
Beamtenwesens, welches, der Routine des Mittel- 
mäßigen hold, dem sittlichen und technischen Fort- 
schritte feind, die Herrschaft der Routine mit 
Staatserhaltung verwechsle und die unerläßlichen 
Reformen unterbinde. Auch das Arbeiter-Asso- 
ziationswesen, insbesondere die Produktivge- 
nossenschaften bieten an sich keine Garantie 
für den Sieg des Reformgedankens, da sie mit 
ihren Sonderzielen in eingeschränktem Wirkungs- 
kreise des Gemeinsinnes meist entbehren, energi- 
scher Führung hervorragender Mitglieder leicht 
entraten und subversiven Tendenzen eher zustimmen 
als selbstverleugnender Arbeit zur Selbsthilfe. 
Desto höher steht bei Le Play der Patronage, 
weil er, diskret mit Achtung vor der Persönlich- 
keit und der Initiative der Arbeiter aus christlicher 
Überzeugung, d. h. pflichtgemäß und mit Ent- 
sagung geübt, das naturgemäße Verhältnis zwi- 
schen Vorgesetzten und Untergebenen, Arbeitgebern 
und Arbeitnehmern zum besten Ausdruck bringe. 
Als wirksamstes Heilmittel gegen die Schäden der 
Wirtschaftsfreiheit weist er dem Patronage die 
Hauptarbeit an der Verwirklichung der sechsfachen 
Grundbedingung für die Wiedererringung des 
heute so unheilvoll zerrütketen sozialen Friedens 
zu: in der Herstellung ständiger Arbeitsverhält- 
nisse, in der wechselseitigen Verständigung über 
den Lohn, in der Verbindung der Fabrikarbeit 
mit der Haus= und Landarbeit, in der Förderung 
der Sparsamkeit und der Fürsorge für die Nach- 
kommen, in der Schaffung eines Eigenbesitzes, 
namentlich eines kleinen Hauses, in dem Schutz 
und in der Hochachtung der Frau und der Mutter. 
Für öffentlichen Schutz der Kinder, der 
jugendlichen Arbeiter, der Frauen wie der Arbeiter 
gegen übermäßige Arbeit tritt Le Play ebenso ein 
wie für den Schutz der lokalen Freiheiten und der 
auf eigner Initiative beruhenden Institutionen 
  
Le Play. 
  
840 
nach dem Vorbilde Englands wie auch für die 
Anwendung des hier hoch entwickelten Enquele- 
wesens für alle Sozialgesetze. In der Verteidigung 
seiner Lehre über Kolonisation, Selbstverwaltung 
und die Grundlagen des heutigen Staatsverfas- 
sungswesens war er ein ebenso scharfer Gegner der 
Ideen von 1789 wie ein erleuchteter Reformer 
nach den sozialen Anforderungen der Jetztzeit. 
Was endlich die Methode der Le Playschen 
Sozialforschung anlangt, so tritt hier vielleicht 
in noch höherem Maße seine UÜberlegenheit über 
die abstrakten Wirtschafts-- und Sozialtheoretiker 
seiner Zeit hervor als in seiner Sozialtheorie. 
Welchen Wert er auf das allseitige und gründliche 
Studium der Methode legte, bezeugt die umfang- 
reiche, für seine Schule (Mitte 1870) veröffent- 
lichte Schrift: La Méthode sociale, ab- 
régé des Ouvriers européens, ouvrage de- 
stiné aux classes dirigeantes, ein Handbuch, 
worin das für erfolgreiches soziales Wirken Un- 
erläßliche (methodisches Reisen, wirtschaftliche und 
soziale Studien, Gewerbe-, Ackerbau-, Verwal- 
tungswesen), dann das Entstehen der Methode, 
ihre Beschreibung und ihre Geschichte dargelegt 
wird. Eine erschöpfende lexikalische Erklärung der 
300 von Le Play für seine Sozialwissenschaft 
stets gebrauchten Worte und Begriffe (S. 444 
bis 559) bietet den Schlüssel zum Verständnis 
und zur Beurteilung seiner einzig dastehenden 
Lebensarbeit. Es tut ihrer Bedeutung keinen Ein- 
trag, wenn wir im Anschluß an unsere Beleuch- 
tung seines Lebens und seiner Methode hier auf 
die Notwendigkeit ihrer Ergänzung durch das 
Studium der aus der Vernunft= und der Offen- 
barungslehre sich ergebenden Sozialprinzipien hin- 
weisen. Soziale Tatsachen, in positiver Beobach- 
tung festgestellt und erläutert, bieten für sich allein 
in ihrer Konkretheit und Vereinzelung, in ihrer 
Unvollständigkeit, in der Vieldeutigkeit der ihnen 
zugrunde liegenden Ideen noch keine Soziallehre, 
kein Sozialprinzip, keine Sozialwahrheit. Letztere 
besteht und lebt für sich auch außerhalb der be- 
obachteten Tatsachen, ohne Zutun der Beobach- 
tung, unabhängig von ihr; sie ist die Voraus- 
setzung der rechten Beobachtung und die sichere 
Führerin ihrer Arbeit. Die beobachtete Tatsache 
kann zur Auffindung und Anerkennung der so- 
zialen Wahrheit führen; der Wert einer als wahr 
festgestellten Tatsache beruht in der Übereinstim- 
mung mit der ohne sie und außer ihr fortlebenden 
sozialen Wahrheit; ein Widerspruch zwischen Lehre 
und Tatsache ist auch auf sozialem Gebiete nur 
möglich entweder bei unzuverlässiger Beobachtung 
oder bei irriger Lehre. Der Einklang verbürgt die 
soziale Wahrheit, die Grundlage aller Sozial- 
reform. Daß Le Play in ihrer Erkenntnis auf 
dem Wege der positiven Beobachtung der größte 
bahnbrechende Apologet des 19. Jahrh. gewesen, 
ist ebenso unbestreitbar, wie die bisherige Ver- 
nachlässigung seiner Forschungen von seiten deut- 
scher Soziologen tief beklagenswert bleibt. Die
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.