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dieser Tendenz des liberalen Trennungsgedankens Toleranz. Bezüglich der Lehrfreiheit gilt im mo-
ist wohl zu unterscheiden die Trennungsforderung dernen Staat der Satz: Die Wissenschaft und
des sog. liberalen Katholizismus (Lamennais), die ihre Lehre ist frei.
hervorging aus der Absicht, der Kirche Freiheit Geschichtlich haben die gekennzeichneten Anschau-
vom drückenden Staatskirchentum zu verschaffen. ungen sich durchgesetzt nicht zuerst auf Grund doktri-
Zur Geschichte des Trennungsgedankens über= närer Erwägungen vom Rechte des Individuums,
haupt vgl. Rothenbücher a. a. O. 1/113; des libe- sondern als Resultat realpolitischer Machtkämpfe.
ralen Trennungsgedankens insbesondere 98/112; In grundsätzlicher Erwägung ist zu betonen, daß
ferner Neundörfer, Der üälltere deutsche Liberalis= die innere Freiheit des geistigen und religiösen
mus und die Forderung der Trennung von Staat Lebens dem Staat gegenüber eine absolute ist.
und Kirche, im Archiv für kathol. Kirchenrecht „Es ist das äußerste Extrem des Fanatismus und
1909, 270 ff und 393 ffz Kahl, Aphorismen zur der Torheit, in das Innere des Menschen mit
Trennung von Staat und Kirche, in Internatio- SJvag eingreifen zu wollen“ (v. Hertling, Kleine
nale Wochenschrift 1908, 1344 ff. Schriften zur Zeitgeschichte u. Politik (18971 13).
Über den Liberalismus als philosophisches Prin- Ebenso hat in Bezug auf Kundgebungen des reli-
zip und als Weltanschauung vgl. vor allem das giösen und geistigen Lebens das Individuum dem
Rundschreiben Leos XIII. über die menschliche Staat gegenüber unveräußerliche Freiheitsrechte,
Freiheit vom 20. Juni 1888, Libertas, prae-
stantissimum naturae bonum (51903); dazu
Braig, Der Papst und die Freiheit (1903); derf.,
Die Freiheit der philosophischen Forschung (1894);
v. Hertling, Wissenschaftliche Voraussetzungslosig=
keit und Katholizismus, in Jahresbericht der
Görres-Gesellschaft für das Jahr 1903 (1904)
26/36; Donat, Der moderne Freiheitsbegriff und
seine Weltanschauung, in Zeitschr. für kath. Theo-
logie 1909, 490/516. ,
Als gesellschaftspolitisches Prinzip,
das unabhängig von Weltanschauungsfragen er-
örtert werden kann, verlangt der Liberalismus in
weitem Umfange eine von der Staatsgewalt un-
gehinderte und zugleich von ihr garantierte Frei-
heit äußern Handelns. Konsequenterweise neigt
er umgekehrt zu grundsätzlicher — aber nicht ab-
soluter — Bekämpfung der staatlichen Beschrän-
kung der individuellen Freiheitssphäre und geht
von der gesellschaftsphilosophischen Auffassung
aus, daß das Wohl der einzelnen und der Ge-
samtheit am besten erreicht wird, wenn dem In-
dividuum und seinem natürlichen egoistischen Stre-
ben möglichst wenig gesellschaftliche Schranken
gesetzt werden.
Drei Lebensgebiete kommen vor allem in Frage,
bei denen nach dem Liberalismus dem Individuum
diese gesellschaftspolitische Freiheit und Selbstän-
digkeit gewährt werden soll; es sind die Auße-
rungen des geistigen und des religiösen Lebens,
sodann das politische und das wirtschaftliche
Lebensgebiet.
2. In Bezug auf die Außerungen des gei-
stigen und religiösen Lebens erhebt der
Liberalismus in erster Linie die Forderung der
Religionsfreiheit und der Lehrfreiheit. Erstere
umfaßt die Gewissensfreiheit, die Bekenntnisfrei-
heit und die Kultfreiheit (Gegensatz: Gewissens-
zwang, Bekenntniszwang und Kultverbot). Der
moderne Staat steht grundsätzlich auf dem Boden
der religiösen Freiheit; insbesondere lehnt er im
Unterschied vom mittelalterlichen Glaubensstaat (
es ab, Glaubenseinheit und Glaubensreinheit
strafrechtlich zu schützen, und übt staatsbürgerliche
wenn auch die Interessen des Gemeinwesens ge-
wisse Schranken setzen können und tatsächlich setzen
(ogl. die grundsätzlichen Ausführungen v. Hert-
lings a. a.
3. Der politische Liberalismus ist in
seinem Entstehen geschichtlich zu würdigen als Op-
position gegen den Absolutismus des alten Polizei-
staates. Das Streben ging auf ein Doppeltes:
erstens auf rechtliche und gesetzliche Sicherung einer
weitgehenden individuellen Freiheitssphäre gegen-
über der Staatsgewalt und auf „Gleichheit aller
vor dem Gesetze“, und zweitens auf aktive Teil-
nahme der Bürger an der Regierung des Staates.
Mit einem Schlagwort ausgedrückt: man wollte
nicht Untertan, sondern Staatsangehöriger, und
nicht bloß Staatsangehöriger, sondern auch Staats-
bürger sein. Die erstere Forderung wurde grund-
sätzlich befriedigt durch die Schaffung des Rechts-
staates im modernen Sinne, der Rechtsschranken
zwischen sich und dem Individuum setzt und an-
erkennt. (Uber diesen modernen (liberalen] Frei-
heitsbegriff und seinen „Gegensatz“ zur antiken
bürgerlichen Freiheit vgl. die treffenden kritischen
Ausführungen von Jellinek, Das Recht des
modernen Staates. I: Allgemeine Staatslehre
(21905) 285 ff.) Der andern Forderung ent-
sprach grundsätzlich die Einführung der konstitu-
tionellen Verfassungen und der Selbstverwaltung.
Für den Staat selbst verlangte der Liberalis=
mus Freiheit und Einheitlichkeit der Staatsge-
walt im Sinne der Unabhängigkeit von Mächten,
die außer und über ihm stehen. Diese Forderung
hat ihre Erfüllung gefunden in dem, was man die
Souveränität des modernen Staates nennt. Es
handelte sich dabei wesentlich um die Emanzipation
des Staates von gewissen mittelalterlichen Ge-
bundenheiten, von Herrschaftsträgern, die über
den Staat sich stellten, wie die hierokratische Kirche,
und von Herrschaftsträgern, die neben den Staat
ihr eignes Recht stellten, wie die ständischen
Mächte feudalen und kommunalen Charakters.
(Vgl. Anschütz, Deutsches Staatsrecht, in Holtzen-
dorff-Kohler, Enzyklopädie der Rechtswissenschaft
II/ 468 ff; über den modernen Staat überhaupt