Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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waren oder sein wollten, und endlich handelt es 
sich um eine grundsätzliche Prüfung des liberalen 
Prinzips und seiner Brauchbarkeit für die gesell- 
schaftliche Organisation. In seinem ersten Ent- 
stehen war der Liberalismus wohl zu begreifen als 
Kampf gegen zu weitgehende gesellschaftliche Bin- 
dung und gegen Verkümmerung der persönlichen 
Freiheitssphäre in politischer, wirtschaftlicher und 
auch geistiger Beziehung. Insbesondere handelte 
es sich auch um Abschaffung veralteter Formen 
gesellschaftlicher Abhängigkeit und Gebundenheit. 
In seiner weiteren Entwicklung ließ der Liberalis- 
mus sehr bald den Sinn für Wert und Bedeutung 
gesellschaftlichen Zusammenhangs und gesellschaft- 
licher Institutionen überhaupt vermissen und unter- 
lag zunächst in der Theorie, wo er den realen 
Gegendruck anderer Lebensinteressen nicht so ver- 
spürte, oftmals einem abstrakten und einseitigen 
Doktrinarismus, der ganz übersah, daß auch die 
gesellschaftliche Bindung nur den Zweck hat, die 
Freiheit des einzelnen gegen die Willkür anderer 
zu sichern. Der Schaden, den er dadurch besonders 
im Wirtschaftsleben anrichtete, ist nicht gering. 
Als Streben nach Geltendmachung der freien 
und selbstverantwortlichen Persönlichkeit hat der 
Liberalismus ohne Zweifel großen Anteil an der 
Schaffung des modernen Staats= und Kultur- 
lebens; man braucht aber deshalb seine Verdienste 
nicht zu übertreiben, als ob er die ganze moderne 
Kultur geschaffen; die sozialen Kräfte gesellschaft- 
licher Institutionen und konservativer Tendenzen 
haben ebenfalls ihren Anteil. Auch kann man 
wahrlich nicht sagen, daß es freie Persönlichkeiten 
vor den Zeiten des Liberalismus überhaupt nicht 
gegeben habe. Auf der andern Seite darf man 
aber auch nicht in den Fehler verfallen, alle 
Schattenseiten der modernen Kultur auf das Konto 
des Liberalismus zu setzen. Manche Schattenseiten 
zeigten sich als Gefolgschaft des Liberalismus im 
gesellschaftlichen Leben eben deshalb, weil das li- 
berale Prinzip organisatorisch und positiv nicht 
ausgebaut und liberale Reformen nur zur Hälfte, 
nach der negativen Seite, durchgeführt wurden. 
(Ein Beispiel hierfür s. oben Sp. 845 f.) 
Von dem geschichtlichen Urteil über die Art der 
Durchführung des liberalen Prinzips ist wohl zu 
trennen das Urteil über die politischen Parteien, 
die Träger der liberalen Bewegung waren oder 
sein wollten. Zunächst sind nicht bloß die Par- 
teien, die sich jetzt liberale nennen, an der Schaf- 
sung und Sicherung freiheitlicher Einrichtungen 
beteiligt. Sodann haben gerade diese Parteien 
zu oft das Prinzip der Freiheit verleugnet und 
verletzt, und zwar sowohl in wirtschaftlicher wie in 
politischer und religiöser Beziehung, als daß sie 
als neutrale und uneigennützige Idealisten der 
Freiheit gelten könnten. So hat der Liberalismus 
in seinen Anfängen wohl zu seinen Gunsten ge- 
schwärmt für das Machtmittel politischer Vereine, 
aber nichts wissen wollen von der Freiheit wirt- 
schaftlicher Vereinigungen (vgl. G. v. Schmoller, 
Liberalismus. 
  
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Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre I 
(7.—10. Tausend, 19081 495). Sehr oft haben 
liberale Parteien die Interessen des Unternehmer- 
tums und des Kapitals einseitig vertreten. Das 
markanteste Beispiel aber für den möglichen Illibe- 
ralismus liberaler Parteien bietet der Kultur- 
kampf, dessen Träger eben diese Parteien waren. 
In diesem ihrem Verhalten wird niemand ein 
Eintreten für kirchliche und religiöse Freiheit er- 
blicken können. Es ist wohl begreiflich, daß die 
von diesem Illiberalismus Betroffenen bei der 
Vorstellung „liberale Parteien“ mehr an eine 
drohende Gefährdung als eine beruhigende Siche- 
rung der Freiheit denken und politisch sich danach 
einrichten. 
Die grundsätzliche Würdigung endlich des libe- 
ralen Prinzips mit seiner entschiedenen Betonung 
des Wertes der freien Persönlichkeit auch für das 
beste Wohlergehen der Gemeinschaft führt uns in 
die alte Antithese von individueller Freiheit und 
gesellschaftlicher Gebundenheit, in das alte Problem 
der Weltgeschichte, wie Persönlichkeit und Gemein- 
schaft ineinandergreifen und den Kulturfortschritt 
bedingen. Der gesellschaftspolitische Ausgleich 
zwischen Individualprinzip und Sozialprinzip 
kann nicht zu allen Zeiten und auf allen Kultur- 
stufen derselbe sein; auch in Zukunft wird derselbe 
ein schwankender bleiben. Der echte Liberalismus 
wird in jedem Staatswesen und im Leben der Ge- 
sellschaft stets eine segensreiche Aufgabe zu erfüllen 
haben; Gleichgewichtsschwankungen lassen sich 
allerdings nicht vermeiden. Ist es beim Aufkom- 
men des modernen Liberalismus sehr bald dazu 
gekommen, daß man von der individuellen Frei- 
heit für das Wohlergehen der Gemeinschaft alles 
erwartete, so haben auf der andern Seite die da- 
bei gemachten Erfahrungen zu einem Rückschlag 
ins Gegenteil geführt, so daß man alles Heil für 
den Kulturfortschritt in sozialer Bindung erblicken 
will. „Während noch vor einem halben Menschen- 
alter die Lehre von der völligen Freiheit des Wirt- 
schaftslebens fast überall als alleinseligmachendes 
Evangelium galt, ist es heute bereits notwendig, 
mit allem Ernst und Nachdruck auf die großen 
Dienste hinzuweisen, welche die moderne Kultur 
der freien Initiative einzelner und dem privaten 
Unternehmungsgeiste verdankt“ (v. Hertling, Na- 
turrecht u. Sozialpolitik, in Kleine Schriften zur 
Zeitgesch. u. Politik 284. Vgl. auch G. v. Schmol- 
lers scharfe Betonung der Unentbehrlichkeit der 
freien privaten Initiative eines Unternehmerstan- 
des für ein gedeihliches Wirtschaftsleben: Grundriß 
der allgemeinen Volkswirtschaftslehre I 553/554). 
Man hat schon die Frage ausgestellt, ob nicht 
doch notwendigerweise die freie Bewegung des 
Individuums eine stetig abnehmende Größe sein 
müsse, da die menschliche Solidarität in fort- 
währendem Wachstum begriffen sei. Mit Recht 
hat man darauf geantwortet, daß „nicht nur 
menschliche Solidarität, sondern auch menschliche 
Freiheit in stetigem Wachstum begriffen sei. Faßt
	        
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