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waren oder sein wollten, und endlich handelt es
sich um eine grundsätzliche Prüfung des liberalen
Prinzips und seiner Brauchbarkeit für die gesell-
schaftliche Organisation. In seinem ersten Ent-
stehen war der Liberalismus wohl zu begreifen als
Kampf gegen zu weitgehende gesellschaftliche Bin-
dung und gegen Verkümmerung der persönlichen
Freiheitssphäre in politischer, wirtschaftlicher und
auch geistiger Beziehung. Insbesondere handelte
es sich auch um Abschaffung veralteter Formen
gesellschaftlicher Abhängigkeit und Gebundenheit.
In seiner weiteren Entwicklung ließ der Liberalis-
mus sehr bald den Sinn für Wert und Bedeutung
gesellschaftlichen Zusammenhangs und gesellschaft-
licher Institutionen überhaupt vermissen und unter-
lag zunächst in der Theorie, wo er den realen
Gegendruck anderer Lebensinteressen nicht so ver-
spürte, oftmals einem abstrakten und einseitigen
Doktrinarismus, der ganz übersah, daß auch die
gesellschaftliche Bindung nur den Zweck hat, die
Freiheit des einzelnen gegen die Willkür anderer
zu sichern. Der Schaden, den er dadurch besonders
im Wirtschaftsleben anrichtete, ist nicht gering.
Als Streben nach Geltendmachung der freien
und selbstverantwortlichen Persönlichkeit hat der
Liberalismus ohne Zweifel großen Anteil an der
Schaffung des modernen Staats= und Kultur-
lebens; man braucht aber deshalb seine Verdienste
nicht zu übertreiben, als ob er die ganze moderne
Kultur geschaffen; die sozialen Kräfte gesellschaft-
licher Institutionen und konservativer Tendenzen
haben ebenfalls ihren Anteil. Auch kann man
wahrlich nicht sagen, daß es freie Persönlichkeiten
vor den Zeiten des Liberalismus überhaupt nicht
gegeben habe. Auf der andern Seite darf man
aber auch nicht in den Fehler verfallen, alle
Schattenseiten der modernen Kultur auf das Konto
des Liberalismus zu setzen. Manche Schattenseiten
zeigten sich als Gefolgschaft des Liberalismus im
gesellschaftlichen Leben eben deshalb, weil das li-
berale Prinzip organisatorisch und positiv nicht
ausgebaut und liberale Reformen nur zur Hälfte,
nach der negativen Seite, durchgeführt wurden.
(Ein Beispiel hierfür s. oben Sp. 845 f.)
Von dem geschichtlichen Urteil über die Art der
Durchführung des liberalen Prinzips ist wohl zu
trennen das Urteil über die politischen Parteien,
die Träger der liberalen Bewegung waren oder
sein wollten. Zunächst sind nicht bloß die Par-
teien, die sich jetzt liberale nennen, an der Schaf-
sung und Sicherung freiheitlicher Einrichtungen
beteiligt. Sodann haben gerade diese Parteien
zu oft das Prinzip der Freiheit verleugnet und
verletzt, und zwar sowohl in wirtschaftlicher wie in
politischer und religiöser Beziehung, als daß sie
als neutrale und uneigennützige Idealisten der
Freiheit gelten könnten. So hat der Liberalismus
in seinen Anfängen wohl zu seinen Gunsten ge-
schwärmt für das Machtmittel politischer Vereine,
aber nichts wissen wollen von der Freiheit wirt-
schaftlicher Vereinigungen (vgl. G. v. Schmoller,
Liberalismus.
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Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre I
(7.—10. Tausend, 19081 495). Sehr oft haben
liberale Parteien die Interessen des Unternehmer-
tums und des Kapitals einseitig vertreten. Das
markanteste Beispiel aber für den möglichen Illibe-
ralismus liberaler Parteien bietet der Kultur-
kampf, dessen Träger eben diese Parteien waren.
In diesem ihrem Verhalten wird niemand ein
Eintreten für kirchliche und religiöse Freiheit er-
blicken können. Es ist wohl begreiflich, daß die
von diesem Illiberalismus Betroffenen bei der
Vorstellung „liberale Parteien“ mehr an eine
drohende Gefährdung als eine beruhigende Siche-
rung der Freiheit denken und politisch sich danach
einrichten.
Die grundsätzliche Würdigung endlich des libe-
ralen Prinzips mit seiner entschiedenen Betonung
des Wertes der freien Persönlichkeit auch für das
beste Wohlergehen der Gemeinschaft führt uns in
die alte Antithese von individueller Freiheit und
gesellschaftlicher Gebundenheit, in das alte Problem
der Weltgeschichte, wie Persönlichkeit und Gemein-
schaft ineinandergreifen und den Kulturfortschritt
bedingen. Der gesellschaftspolitische Ausgleich
zwischen Individualprinzip und Sozialprinzip
kann nicht zu allen Zeiten und auf allen Kultur-
stufen derselbe sein; auch in Zukunft wird derselbe
ein schwankender bleiben. Der echte Liberalismus
wird in jedem Staatswesen und im Leben der Ge-
sellschaft stets eine segensreiche Aufgabe zu erfüllen
haben; Gleichgewichtsschwankungen lassen sich
allerdings nicht vermeiden. Ist es beim Aufkom-
men des modernen Liberalismus sehr bald dazu
gekommen, daß man von der individuellen Frei-
heit für das Wohlergehen der Gemeinschaft alles
erwartete, so haben auf der andern Seite die da-
bei gemachten Erfahrungen zu einem Rückschlag
ins Gegenteil geführt, so daß man alles Heil für
den Kulturfortschritt in sozialer Bindung erblicken
will. „Während noch vor einem halben Menschen-
alter die Lehre von der völligen Freiheit des Wirt-
schaftslebens fast überall als alleinseligmachendes
Evangelium galt, ist es heute bereits notwendig,
mit allem Ernst und Nachdruck auf die großen
Dienste hinzuweisen, welche die moderne Kultur
der freien Initiative einzelner und dem privaten
Unternehmungsgeiste verdankt“ (v. Hertling, Na-
turrecht u. Sozialpolitik, in Kleine Schriften zur
Zeitgesch. u. Politik 284. Vgl. auch G. v. Schmol-
lers scharfe Betonung der Unentbehrlichkeit der
freien privaten Initiative eines Unternehmerstan-
des für ein gedeihliches Wirtschaftsleben: Grundriß
der allgemeinen Volkswirtschaftslehre I 553/554).
Man hat schon die Frage ausgestellt, ob nicht
doch notwendigerweise die freie Bewegung des
Individuums eine stetig abnehmende Größe sein
müsse, da die menschliche Solidarität in fort-
währendem Wachstum begriffen sei. Mit Recht
hat man darauf geantwortet, daß „nicht nur
menschliche Solidarität, sondern auch menschliche
Freiheit in stetigem Wachstum begriffen sei. Faßt