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nung angeboten, er habe aber beides abgelehnt.
Allem Anschein nach handelt es sich um eine Auße-
rung des verstorbenen Finanzministers v. Miquel
in einer Unterhaltung mit Lieber; ob die Auße-
rung einen ernsteren Hintergrund hatte, ist nicht
festzustellen. Zur vollen Klarheit über seine Mo-
tive bei dem Eintreten für die Flottenvorlagen ist
mit dem vorhandenen Material nicht zu gelangen;
er selbst hat in einer Unterredung mit einem süd-
deutschen Journalisten, deren richtige Wiedergabe
zu bestreiten kein Grund vorliegt, sich in folgender
Weise geäußert: „Ich rühme mich, das Flotten-
gesetz zustande gebracht zu haben, aber der Beweis
der absoluten Notwendigkeit für jede einzelne For-
derung ist mir mit unwiderlegbarem Material er-
härtet worden.“ Die den Regierungsvorlagen
beigegebenen Denkschriften seien allerdings „meist
Schaumschlägerei“; nicht einmal in den Kom-
missionen erfahre man die Wahrheit in ihrem
vollen Umfang, in vielen Fällen könne man die
näheren Informationen nur direkt von den Vor-
gesetzten der betreffenden Ressorts erhalten (hier
ist eine unbekannte Größe in die Rechnung ein-
gestellt). Nicht unberücksichtigt habe er auch ge-
lassen, daß in weiten Kreisen der Zentrumspartei
West- und Norddeutschlands die Stimmung für
die Flottenvorlage günstig gewesen sei und daß
die Ablehnung zur Auflösung des Reichstags mit
guter Aussicht auf die Bildung einer Mehrheit
gegen das Zentrum geführt haben würde. In
diesem Zusammenhang fügte Lieber bei: „Ich
habe genau über alles und jedes, was in der
langen Zeit meiner parlamentarischen Tätigkeit
vorgegangen und wobei meine Person im Spiele
gewesen ist, Buch geführt. Ich hoffe, daß unser
Herrgott mir die Möglichkeit gibt, dieses Buch
auszuarbeiten und fertigzustellen.“ Bis diese Auf-
zeichnungen — übrigens wird deren Existenz be-
stritten — oder sonstige durchschlagende Mate-
rialien vorliegen, wird man ein abschließendes
Urteil aufschieben müssen. Bezüglich der „Bin-
dung“ des Flottenplanes ist Lieber getäuscht wor-
den; schon bei der Beratung des Etats für 1900
war er in der Lage, in dieser Hinsicht bittere Be-
schwerde führen zu müssen.
Das Eingehen auf die Militärforderungen hat
Lieber nicht gehindert, mit seiner Fraktion be-
züglich der Deckungsfrage die Regierungsvor-
schläge zu bekämpfen. Das nach Annahme der
Militärvorlage von 1892 vorgelegte Steuer-
bukett wurde arg zerpflückt, nur Börsensteuer
und Lotteriestempel blieben übrig, und bei der
Annahme des Flottenplanes wurde die Auf-
bringung der Mittel durch indirekte Steuern auf
den Massenverbrauch in aller Form ausgeschlossen.
Der Miaquelschen Finanzreform, welche Erhöhung
der indirekten Steuern zur Voraussetzung hatte,
soll er anfangs nicht abgeneigt gewesen sein, dann
aber hat er sie fallen und scheitern lassen und in
der Budgetkommission des Reichstages einer selb-
ständigen Finanzpolitik die Wege geebnet, welche
Lieber.
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auf sparsamere Wirtschaft und Schuldenvermin-
derung hinauslief. Durch die seit 1896 sich
folgenden Leges Lieber wurde die Hälfte des
Überschusses der Uberweisungen über die Matri-
kularbeiträge für Verminderung der Reichsschulden
reserviert und eine nicht unerhebliche Verbesserung
der Reichsfinanzen herbeigeführt.
Die sonstige parlamentarische Tätigkeit Liebers
während der Höhezeit seiner politischen Laufbahn
kann hier nur flüchtig gestreift werden. Bei den
weitaus meisten wichtigeren Vorlagen, nicht bloß
den kirchenpolitischen, wie Jesuitengesetz und To-
leranzantrag, hat er den Standpunkt der Fraktion
als Hauptwortführer in zahlreichen Fällen wir-
kungsvoll und schlagfertig vertreten. In der
Kolonial= und auswärtigen Politik leistete er der
Regierung mehrfach wirksame Unterstützung. Bei
den Verhandlungen über den letzten Zolltarif blieb
er im Hintergrund, genötigt durch die rasch sich
wiederholenden Anfälle eines Jahrzehnte zurück-
reichenden qualvollen Leidens. Man gewinnt den
richtigen Maßstab für seine geistige Kraft, für
seine Opferbereitschaft und eiserne Willensstärke
erst dann, wenn man berücksichtigt, daß diese ganze
ungeheure parlamentarische Arbeit von einem
Manne geleistet wurde, dessen Gesundheitszustand
schon längst den Rücktritt in das Privatleben ge-
rechtfertigt hätte; anderseits erscheinen einzelne all-
zu temperamentvolle Außerungen des geplagten
und gequälten Mannes nur zu erklärlich. Das
Erstaunen über Liebers Arbeitskraft wächst bei
der Erinnerung, daß die glänzende und muster-
gültig gewissenhafte Erfüllung der Pflichten des
Volksvertreters nur einen Teil seiner gewaltigen
Arbeitsleistung bildete. Zeitlebens war er nicht
nur Parlamentarier, sondern auch politischer
Agitator und Führer der katholischen
Bewegung im großen Stil. Auf unzähligen
Versammlungen von der Ostmark bis zum äußer-
sten Westen und bis nach Bayern trat er als
Redner auf, und die nicht selten beliebten, an
Außerlichkeiten haftenden Spötteleien über seine
Rhetorik erledigen sich schon dadurch, daß er so-
wohl auf dem glatten Boden der Parlamente wie
in erregten Massenversammlungen sich als Redner
mit gleicher Sicherheit und durchschlagendem Er-
folg zu bewegen wußte. Für die Hebung des
religiösen Bewußtseins der deutschen Katholiken
wie für den politischen Zusammenhalt der Zen-
trumspartei hat er Bedeutendes geleistet. An der
Entwicklung des „Volksvereins für das katholische
Deutschland“ gebührt ihm ein wesentlicher Anteil,
und bei den jährlichen Generalversammlungen der
Katholiken Deutschlands hat er fast nie gefehlt.
Wie einst sein Vater (Breslau 1849, Salzburg
1857) hat er auf einer dieser Versammlungen
(Münster 1885) den Vorsitz geführt, und nach
dem Tode Windthorsts fiel ihm wiederholt dessen
Ehrenamt zu, die Schlußrede zu halten. So noch
1900 in Bonn. Im folgenden Jahre hielt er zu
Osnabrück in der Schlußsitzung die schwungvolle