Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

857 
nung angeboten, er habe aber beides abgelehnt. 
Allem Anschein nach handelt es sich um eine Auße- 
rung des verstorbenen Finanzministers v. Miquel 
in einer Unterhaltung mit Lieber; ob die Auße- 
rung einen ernsteren Hintergrund hatte, ist nicht 
festzustellen. Zur vollen Klarheit über seine Mo- 
tive bei dem Eintreten für die Flottenvorlagen ist 
mit dem vorhandenen Material nicht zu gelangen; 
er selbst hat in einer Unterredung mit einem süd- 
deutschen Journalisten, deren richtige Wiedergabe 
zu bestreiten kein Grund vorliegt, sich in folgender 
Weise geäußert: „Ich rühme mich, das Flotten- 
gesetz zustande gebracht zu haben, aber der Beweis 
der absoluten Notwendigkeit für jede einzelne For- 
derung ist mir mit unwiderlegbarem Material er- 
härtet worden.“ Die den Regierungsvorlagen 
beigegebenen Denkschriften seien allerdings „meist 
Schaumschlägerei“; nicht einmal in den Kom- 
missionen erfahre man die Wahrheit in ihrem 
vollen Umfang, in vielen Fällen könne man die 
näheren Informationen nur direkt von den Vor- 
gesetzten der betreffenden Ressorts erhalten (hier 
ist eine unbekannte Größe in die Rechnung ein- 
gestellt). Nicht unberücksichtigt habe er auch ge- 
lassen, daß in weiten Kreisen der Zentrumspartei 
West- und Norddeutschlands die Stimmung für 
die Flottenvorlage günstig gewesen sei und daß 
die Ablehnung zur Auflösung des Reichstags mit 
guter Aussicht auf die Bildung einer Mehrheit 
gegen das Zentrum geführt haben würde. In 
diesem Zusammenhang fügte Lieber bei: „Ich 
habe genau über alles und jedes, was in der 
langen Zeit meiner parlamentarischen Tätigkeit 
vorgegangen und wobei meine Person im Spiele 
gewesen ist, Buch geführt. Ich hoffe, daß unser 
Herrgott mir die Möglichkeit gibt, dieses Buch 
auszuarbeiten und fertigzustellen.“ Bis diese Auf- 
zeichnungen — übrigens wird deren Existenz be- 
stritten — oder sonstige durchschlagende Mate- 
rialien vorliegen, wird man ein abschließendes 
Urteil aufschieben müssen. Bezüglich der „Bin- 
dung“ des Flottenplanes ist Lieber getäuscht wor- 
den; schon bei der Beratung des Etats für 1900 
war er in der Lage, in dieser Hinsicht bittere Be- 
schwerde führen zu müssen. 
Das Eingehen auf die Militärforderungen hat 
Lieber nicht gehindert, mit seiner Fraktion be- 
züglich der Deckungsfrage die Regierungsvor- 
schläge zu bekämpfen. Das nach Annahme der 
Militärvorlage von 1892 vorgelegte Steuer- 
bukett wurde arg zerpflückt, nur Börsensteuer 
und Lotteriestempel blieben übrig, und bei der 
Annahme des Flottenplanes wurde die Auf- 
bringung der Mittel durch indirekte Steuern auf 
den Massenverbrauch in aller Form ausgeschlossen. 
Der Miaquelschen Finanzreform, welche Erhöhung 
der indirekten Steuern zur Voraussetzung hatte, 
soll er anfangs nicht abgeneigt gewesen sein, dann 
aber hat er sie fallen und scheitern lassen und in 
der Budgetkommission des Reichstages einer selb- 
ständigen Finanzpolitik die Wege geebnet, welche 
Lieber. 
  
868 
auf sparsamere Wirtschaft und Schuldenvermin- 
derung hinauslief. Durch die seit 1896 sich 
folgenden Leges Lieber wurde die Hälfte des 
Überschusses der Uberweisungen über die Matri- 
kularbeiträge für Verminderung der Reichsschulden 
reserviert und eine nicht unerhebliche Verbesserung 
der Reichsfinanzen herbeigeführt. 
Die sonstige parlamentarische Tätigkeit Liebers 
während der Höhezeit seiner politischen Laufbahn 
kann hier nur flüchtig gestreift werden. Bei den 
weitaus meisten wichtigeren Vorlagen, nicht bloß 
den kirchenpolitischen, wie Jesuitengesetz und To- 
leranzantrag, hat er den Standpunkt der Fraktion 
als Hauptwortführer in zahlreichen Fällen wir- 
kungsvoll und schlagfertig vertreten. In der 
Kolonial= und auswärtigen Politik leistete er der 
Regierung mehrfach wirksame Unterstützung. Bei 
den Verhandlungen über den letzten Zolltarif blieb 
er im Hintergrund, genötigt durch die rasch sich 
wiederholenden Anfälle eines Jahrzehnte zurück- 
reichenden qualvollen Leidens. Man gewinnt den 
richtigen Maßstab für seine geistige Kraft, für 
seine Opferbereitschaft und eiserne Willensstärke 
erst dann, wenn man berücksichtigt, daß diese ganze 
ungeheure parlamentarische Arbeit von einem 
Manne geleistet wurde, dessen Gesundheitszustand 
schon längst den Rücktritt in das Privatleben ge- 
rechtfertigt hätte; anderseits erscheinen einzelne all- 
zu temperamentvolle Außerungen des geplagten 
und gequälten Mannes nur zu erklärlich. Das 
Erstaunen über Liebers Arbeitskraft wächst bei 
der Erinnerung, daß die glänzende und muster- 
gültig gewissenhafte Erfüllung der Pflichten des 
Volksvertreters nur einen Teil seiner gewaltigen 
Arbeitsleistung bildete. Zeitlebens war er nicht 
nur Parlamentarier, sondern auch politischer 
Agitator und Führer der katholischen 
Bewegung im großen Stil. Auf unzähligen 
Versammlungen von der Ostmark bis zum äußer- 
sten Westen und bis nach Bayern trat er als 
Redner auf, und die nicht selten beliebten, an 
Außerlichkeiten haftenden Spötteleien über seine 
Rhetorik erledigen sich schon dadurch, daß er so- 
wohl auf dem glatten Boden der Parlamente wie 
in erregten Massenversammlungen sich als Redner 
mit gleicher Sicherheit und durchschlagendem Er- 
folg zu bewegen wußte. Für die Hebung des 
religiösen Bewußtseins der deutschen Katholiken 
wie für den politischen Zusammenhalt der Zen- 
trumspartei hat er Bedeutendes geleistet. An der 
Entwicklung des „Volksvereins für das katholische 
Deutschland“ gebührt ihm ein wesentlicher Anteil, 
und bei den jährlichen Generalversammlungen der 
Katholiken Deutschlands hat er fast nie gefehlt. 
Wie einst sein Vater (Breslau 1849, Salzburg 
1857) hat er auf einer dieser Versammlungen 
(Münster 1885) den Vorsitz geführt, und nach 
dem Tode Windthorsts fiel ihm wiederholt dessen 
Ehrenamt zu, die Schlußrede zu halten. So noch 
1900 in Bonn. Im folgenden Jahre hielt er zu 
Osnabrück in der Schlußsitzung die schwungvolle
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.