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Lippe-Biesterfeld (Modeste von Unruh, gest. 1854)
für unebenbürtig erklärte, entschied am 22. Juni
1897 ein Schiedsgericht unter dem König von
Sachsen zugunsten des Grasen Ernst, der am
17. Juli die Regentschaft übernahm. Da der
Schiedsspruch über die Erbberechtigung der Nach-
kommen des Grafregenten nichts bestimmte, ging
dem lippeschen Landtage am 28. Okt. 1897 ein
Gesetz zu, welches diese in erster Linie für sukzes-
sionsfähig erklärte. Dagegen erhob Schaumburg-
Lippe Einspruch, indem es die Heirat des Graf-
regenten Ernst mit der Gräfin Karoline von
Wartensleben für unebenbürtig erklärte, und der
Bundesrat entschied am 20. Jan. 1898, daß
jenem Gesetzantrag kein Fortgang zu geben sei.
Nun beschloß der lippesche Landtag am 16. März
1898 einen Zusatz zum Regentschaftsgesetz (vom
23. April 1895), wonach der jeweilige älteste
Sohn des Grafregenten Nachfolger in der Regent-
schaft werden sollte. Der erneute Einspruch Schaum-
burg-Lippes und die tiefgehende Erregung der
Einwohnerschaft von Lippe, welche die Entschei-
dung der Streitfrage für den Landtag allein in
Anspruch nahm, veranlaßte einen Beschluß des
Bundesrats (5. Jan. 1899), der sich mit allen
gegen 10 Stimmen (darunter Bayern) für zu-
ständig erklärte, aber zur Zeit keinen hinreichenden
Anlaß zu einer sachlichen Erledigung fand. Als
Graf Ernst am 26. Sept. 1904 starb, übernahm
sein Sohn Graf Leopold die Regentschaft. Schaum-
burg--Lippe machte seine Ansprüche wiederum gel-
tend, und auch der Kaiser griff zugunsten seines
Schwagers Adolf ein und erkannte den Grafen
Leopold vorerst nicht als Regenten an. Die Thron-
prätendenten einigten sich schließlich mit Zustim-
mung des Bundesrats vom 18. Nov. 1904 dahin,
daß ein Schiedsgericht (der Präsident und zwei
Senate des Reichsgerichts) über die Erbfolge-
berechtigung entscheide. Der geisteskranke Fürst
Alexander starb am 13. Jan. 1905, noch ehe das
Schiedsgericht den Grafen Leopold für erbfolge-
berechtigt erklärt hatte (25. Okt. 1905). Dieser
bestieg nun als Fürst Leopold IV. den Thron.
Der neue Fürst (geb. 30. Mai 1871 zu Oberkassel
bei Bonn) ist mit Prinzessin Bertha zu Hessen-
Philippsthal-Barchfeld (geb. 1874) vermählt. Der
Ehe sind vier Kinder (drei Knaben) entsprossen.
2. Fläche, Bevölkerung, Erwerbs-
verhältnisse. Das Fürstentum umfaßt die
Grasschaften Lippe, Schwalenberg und Sternberg
sowie die drei kleinen Exklaven Grevenhagen im
preußischen Kreis Höxter, Lipperode und Stift
Kappel im preußischen Kreis Lippstadt mit einem
Flächeninhalt von 1215, 2 qkm u. (1905) 145.577
Einwohnern, 119,8 auf 1 qkm (1871: 91,5).
Die Bevölkerung betrug 1776: 50 000, 1871:
111 135, 1895: 134 854, 1900: 138 952 See-
len. Von den Einwohnern waren 1905: 70 767
männlich und 74810 weiblich. Dem Bekennt-
nis nach waren 1905: 139 127 Protestanten,
5481 Katholiken, 735 Juden. Auf 1000 Ein-
Lippe.
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wohner kamen 955,7 (1871: 967) Protestanten,
37,7 (1871: 23,7) Katholiken, 5 (1871: 2)
Juden. — Nach der Berufszählung vom 14. Juni
1895 gehörten an: 45853 (1882: 46 342) der
Landwirtschaft, 57761 (46 308) der Industrie
und dem Bauwesen, 8584 (6318) dem Handel
und Verkehr, 4941 (4396) dem öffentlichen Dienste
und freien Berufen; 837 (1501) verrichteten wech-
selnde Lohnarbeit und häusliche Dienste, 5568
(4092) waren ohne Beruf und Berufsangabe. —
Die Bevölkerung verteilt sich auf 115 Dorfge-
meinden, 29 Gutsbezirke und 8 Städte; der
Hauptort Detmold zählt (1905) 18272 Ein-
wohner. — Von der Gesamtfläche entfallen auf
Acker-- und Gartenland 53, auf Wiesen und Wei-
den 16 und auf Waldungen 28% . Die wich-
tigsten Erwerbszweige sind Landwirtschaft und
Viehzucht, die 1907 einen Bestand von 9968
Pferden, 41 171 Rindern, 12005 Schafen,
116.067 Schweinen und 39750 Ziegen hatte. —
Der gewerbliche Betrieb ist unbedeutend; während
des Sommers sucht ein erheblicher Teil der männ-
lichen Bewohner (etwa 20 000) als Ziegelbrenner
außerhalb Erwerb. Erwähnenswert ist die Stärke-
fabrikation, die Gerberei, die Fabrikation von
Meerschaumwaren. Die meist als Hausindustrie
blühende Leinenweberei ist fast ganz verschwunden.
— Seit der Verordnung von 1837 über den
Chaussee= und Kommunalwegebau erfreut sich das
Ländchen trefflicher Landstraßen und Verbindungs-
wege. Ende 1907 bestanden 95,7 km Eisenbahnen,
die bis auf 0,8 km Nebenbahnen im Besitz des
Staates sind.
3. Verfassung, Verwaltung. Die kon-
stitutionell-monarchische Verfassung beruht auf der
Urkunde vom 6. Juli 1836, die am 8. Dez. 1867
und am 3. Juni 1876 abgeändert wurde. Der
Fürst, dessen Thron nach dem Rechte der Erst-
geburt und der Linealsukzession im Mannesstamme
des lippeschen Hauses erblich ist, bekennt sich zur
reformierlen Kirche und wird mit dem 21. Jahre
großjährig. Er führt den Titel: Regierender Fürst
zur Lippe, Edler Herr und Graf zur Lippe-Biester-
feld, Graf zu Schwalenberg und Sternberg usw.,
Hochfürstliche Durchlaucht. Im deutschen Bun-
desrat führt Lippe 1 Stimme; in den Reichstag
entsendet es 1 Abgeordneten. Die gesetzgebende
Gewalt übt der Fürst im Verein mit einem we-
nigstens alle 2 Jahre zu berufenden Landtage,
dessen 21 Abgeordnete in geheimer, direkter Wahl
auf 4 Jahre gewählt werden, und zwar: 7 von
den Höchstbesteuerten, d. h.jenen, welche an Grund-
steuern wenigstens 18M in simplo oder an Ein-
kommensteuer jährlich mindestens 180 M zur
Staatskasse zahlen; 7 von den Wahlberechtigten,
für welche der ganze Steuerzensus mindestens
36 M beträgt, und 7 von allen übrigen Staats-
angehörigen. Für die Wahlberechtigung ist das
vollendete 25., für die Wählbarkeit das vollendete
30. Lebensjahr erforderlich. Nimmt ein Abgeord-
neter während der Zeit seines Mandats eine An-