Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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1652 in das unter puritanischer Leitung stehende 
Christ Church College. Der einseitige Formalis- 
mus des Oxforder Scholastizismus und nicht we- 
niger die fortwährenden, bis zum Fanatismus 
ausartenden theologischen Streitigkeiten zwischen 
Puritanern, Presbyterianern und Independenten 
entfremdeten ihn sowohl dem ernsteren philosophi- 
schen Studium als auch der positiven Theologie. 
Locke fand sich frühzeitig zu den freidenkerischen, 
rationalistischen Theologen hingezogen, welche 
seinem friedlichen Naturell mehr zusagten als die 
streitenden Orthodoxen. 1660 wurde er Tutor 
am Christ Church College. Er lehrte daselbst 
Griechisch, Rhetorik und Philosophie. Auch trieb 
er, der Strömung der Zeit entsprechend, natur- 
wissenschaftliche, nebenbei abwechselnd theologische 
und politische Studien. Er wurde Sekretär des 
ihm befreundeten Lord Ashley, späteren Earl of 
Shaftesbury, dem Großvater des Philosophen 
Shaftesbury, und 1673 Sekretär des Handels- 
gerichts (board of trade). In einzelnen literari- 
schen Entwürfen aus dieser Zeit zeigte sich seine 
Eigenart in doppelter Weise, einmal in der Gel- 
tendmachung der Individualität auf religiösem 
und politischem Gebiete gegenüber den bestehenden, 
positiv gesetzlichen Normen des kirchlichen und 
staatlichen Lebens, dann in der dem praktischen 
Sinne des Engländers naheliegenden Tendenz 
zum Utilitarismus. 
Mit den politischen Schicksalen seines Freundes 
Shaftesbury war auch Lockes Geschick verknüpft. 
Er ging das erstemal (1675/79) nach Frankreich 
(Montpellier), das zweitemal (1683) nach Hol- 
land in eine Art freiwilligen Exils. Vor den 
Spähern der herrschenden englischen Partei der 
established church mußte er sich bei Freunden 
in Amsterdam verbergen, verlor durch königlichen 
Spruch seine Pfründe am Christ Church College 
und seine Stellung an der Universität Oxford. 
In Holland befreundete er sich mit den hervor- 
ragendsten Theologen der sog. Remonstranten, 
namentlich mit Philipp Limborch, und dem Genfer 
J. Le Clerc. Letzterer gab seit 1686 die Biblio- 
theque universelle (bis 1693) heraus, für welche 
Locke mehrere Beiträge schrieb, für ihn, der bereits 
über 50 Jahre alt war, das erste öffentliche lite- 
rarische Wirken. In derselben Bibliothek erschien 
1688 eine französische Bearbeitung seines Essay 
concerning Human Understanding. 
Als König Wilhelm (Nov. 1688) in England 
landete, folgte bald Locke (Febr. 1689) nach. Erst 
von da an beginnt Lockes öffentliche Anerkennung. 
Er erhielt nun das Amt eines commissioner of 
appeals, eine Art Sinekure. In den folgenden 
Jahren (1689 und 1690) veröffentlichte er seine 
wichtigsten sozialpolitischen Schriften, vor allen 
(1689) die Epistola de tolerantia, ein 
Kompromiß mit den Dissenters, dem Theologen 
Limborch gewidmet, ins Englische von dem Kauf- 
mann William Popple übertragen unter dem 
Titel: A Letter oncerning Toleration (Works 
Locke. 
  
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VI). Die Schrift fordert wahre Freiheit für alle 
— nur nicht für die „Papisten" (d. h. die Katho- 
liken) und die Atheisten. Neben dem angebornen 
Puritanismus macht sich hier der Geist des Frei- 
denkertums geltend, dessen eigentliche Spitze ein 
philosophischer Nominalismus ist, der in seinen 
Konsequenzen zum Skeptizismus, d. h. zur Ver- 
neinung aller allgemeingültigen und insofern not- 
wendigen oder objektiven Wahrheiten führt. Für 
diesen nominalistischen Kritizismus ist die Wissen- 
schaft lediglich eine subjektive Verbindung von 
Begriffen, kein Erkennen der Dinge selbst. Es 
gibt demnach keine objektive, demonstrative Wissen- 
schaft, sondern lediglich subjektive Wahrscheinlich- 
keit. Damit ist die eigentlich leitende Idee der 
Epistola nahegelegt, nämlich daß kontradiktorisch 
oder konträr entgegengesetzte Glaubenssätze even- 
tuell gleichberechtigt, gleich wahr und gleich falsch 
sein können und aus diesem Grunde zu tolerieren 
seien. Durch dieses Sophisma war die Toleranz= 
idee im Sinne des positiven Christentums, welche 
dem Christen die Pflicht auferlegt, den Irrenden 
zu lieben und zu dulden, in ihr Gegenteil ver- 
kehrt, nämlich in die Pflicht, den Irrtum selbst 
als Wahrheit zu betrachten und zu tolerieren. 
Locke ist der Vorläufer des modernen Liberalis- 
mus auf religiösem Gebiete, sofern er zur Unter- 
scheidung des eigentlich Religiös-sittlichen von dem 
Zivilrechtlichen und Politischen hindrängt und 
manches beigetragen hat. Der Gedanke des con- 
trat social oder des compact and agreement, 
wie es Locke nennt, also rein subjektive, in der 
individuellen Willkür liegende Motive, sind der 
Grund der Kirchengesellschaften, deren es so viele 
gibt, als die religiösen Bedürfnisse der Gläubigen 
dies fordern (Works VI 19ff) 
Zu Beginn des Jahres 1690 ließ Locke Two 
Treatises on Government erscheinen. In 
beiden auf den gleichen erkenntnistheoretischen 
Voraussetzungen beruhenden Schriften wirft er 
sich zum beredten Verteidiger der englischen Re- 
volution und des durch den „Volkswillen“ zur 
Königswürde gelangten Königs Wilhelm auf 
(V 210 f), was ihm um so leichter wird, als 
die Staatslehre seiner Gegner, eines Hobbes und 
Filmer, eigentlich auf den gleichen Prinzipien der 
Willkür des Fürsten aufgebaut war. Der Unter- 
grund der zweiten Abhandlung ist das sog. Natur- 
recht (state of nature) im Sinne eines nomina- 
listischen Subjektivismus. Auf diesem baut sich 
dann seine revolutionäre Staatslehre auf. In 
dem Naturstand nämlich sind alle Menschen gleich 
und frei, lediglich an das Naturgesetz gebunden. 
Im Gegensatz zu Hobbes wird dieser Naturstand 
als Friedens-, nicht als Kriegsstand aufgefaßt. 
Jeder hat hier das Recht, Richter und Gesetzgeber 
zu sein. Aus dem Naturstande gehen die Natur- 
gesetze hervor. Forderung dieser Gesetze ist die 
Erhaltung des Lebens des einzelnen und der Ge- 
sellhschaft. Im Naturstand gibt es keine politische 
Gesellschaft, denn die väterliche und die Königs-
	        
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