Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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Handelsflotte zählte am 1. Jan. 1909: 60 See- 
schiffe (59 Dampfer) von 90 798 Bruttotonnen 
und mit 1046 Mann Besatzung. Den Binnen- 
verkehr vermitteln der 67 km lange Elb-Trave- 
Kanal und 61km Eisenbahnen („Lübeck-Büchener“ 
und „Eutin-Lübecker“ Eisenbahn-Gesellschaften); 
nur 10,7 km Hauptbahnen sind im staatlichen 
Besitz. 
n, offung und Verwaltung. Die 
lübeckische Verfassung vom 30. Dez. 1848, die 
auf dem Grundsatz des allgemeinen gleichen Wahl- 
rechts ausgebaut war, erfuhr mehrfach wichtige 
Umgestaltungen (1851, 1875, 1902, 1905). 
Nach Abschluß der letzten Anderungen, welche, wie 
die von 1902, aus Bedenken gegen das Anwachsen 
des sozialdemokratischen Einflusses vorgenommen 
wurden, ist die Verfassung unter dem 2. Okt. 1907 
neu veröffentlicht worden. Die oberste Staats- 
gewalt liegt in den Händen des Senats und der 
Bürgerschaft. Der Senat zählt 14 mindestens 
30 Jahre alte Mitglieder, von denen 8 aus dem 
Gelehrten= (6 Juristen) und 5 aus dem Kauf- 
mannsstande sein müssen; diese werden von einem 
besondern Wahlkollegium, das sich aus einer 
gleichen Anzahl von Mitgliedern des Senates und 
der Bürgerschaft zusammensetzt, in einem ziemlich 
verwickelten Wahlverfahren auf Lebenszeit ge- 
wählt, können aber jederzeit zurücktreten. Der 
Vorsitzende, welcher aus der Mitte des Senats 
auf je zwei Jahre in geheimer Wahl gewählt wird, 
führt während dieser Zeit den Titel „Bürger- 
meister". Die Bürgerschaft besteht aus 120 
Mitgliedern. Aktiv und passiv wahlberechtigt ist 
jeder 25jährige Bürger, der seit Beginn des vierten 
der Wahl vorangegangenen Steuerjahres dauernd 
seinen Wohnsitz im Staat gehabt und dabei jähr- 
lich mindestens die niedrigste Stufe der Einkom- 
mensteuer gezahlt hat (zurzeit sind Einkommen 
bis 600 M steuerfrei). Lübeck hat, wie die andern 
Hansestädte, an der Unterscheidung eines beson- 
dern Bürgerrechts von der Staatsangehörigkeit 
festgehalten. Zum Erwerb des Bürgerrechts ist 
Volljährigkeit, Staatsangehörigkeit, fünfjähriger 
Wohnsitz im Staatsgebiet, Zahlung von Ein- 
kommensteuer und Leistung des Bürgereides er- 
forderlich (Gesetz vom 2. Okt. 1907). Durch 
Einteilung der Wähler in zwei Klassen wird ein 
erhebliches Ubergewicht der höher besteuerten Be- 
völkerungsschichten gewährleistet. Die Bürger 
mit einem Einkommen von mindestens 2100 M 
wählen 105, die übrigen nur 15 Vertreter. Die 
Mitglieder der Bürgerschaft erhalten grundsätz- 
lich keine Entschädigung, ländliche Vertreter bei 
Abendsitzungen aber eine Vergütung von 8 M 
(seit 1907). Die Wahl erfolgt (Gesetz vom 9. Aug. 
1905) in direktem geheimen Wahlgang auf sechs 
Jahre; alle zwei Jahre scheidet je ein Drittel aus. 
Parteien kennt die Bürgerschaft, abgesehen von 
den 12 sozialdemokratischen Mitgliedern (1909), 
nicht. Der (rechtsstehende) sog. 80-Männer-Block 
wird neuerdings energisch angegriffen. Die Bür- 
Staatslexiton. III. 3. Aufl. 
Lübeck. 
  
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gerschaft wählt aus ihrer Mitte alljährlich einen 
Wortführer und einen Bürgerausschuß 
(30 Mitglieder), der sich jährlich zur Hälfte er- 
neuert und für gewisse Funktionen der Bürger- 
schaft sowie zur (meist entscheidenden) Vorbera- 
tung der vom Senat an die Bürgerschaft gerich- 
teten Anträge bestellt ist. — Im Bundesrat hat 
Lübeck eine Stimme, im Reichstag einen Abgeord- 
neten (seit 1898 Sozialdemokrat). 
Der Senat ist als Regierung anzusehen; er 
hat sämtliche Staats= und Gemeindeangelegen- 
heiten zu leiten, soweit nicht die Verfassung eine 
Mitwirkung oder Zustimmung der Bürgerschaft 
vorschreibt. Dies ist der Fall bei Verfassungsände- 
rungen, der Gesetzgebung (nicht aber bei polizei- 
lichen Verfügungen), in Steuerfragen, zur Ge- 
stattung der Ausübung des öffentlichen Gottes- 
dienstes an neu zuzulassende Religionsgesellschaften, 
zum Abschluß von Handel oder Schiffahrt betr. 
Staatsverträgen, zur Anwendung des Enteig- 
nungsgesetzes, zur Erteilung von Privilegien 
u. dgl. Außerdem steht der Bürgerschaft eine Mit- 
wirkung bei der Verwaltung des Staatsvermögens 
und des Vermögens der evangelisch-lutherischen 
Gesamt-Kirchengemeinde zu. Seine Geschäfte er- 
ledigt der Senat im Plenum (nicht in Abteilungen 
oder Kommissionen). Es werden zwar bei der 
Verteilung der Geschäfte (Ratssetzung, alle 2 Jahre) 
eine Reihe von ständigen Kommissionen gebildet 
(3. B. die Kommission für Reichs= und auswärtige 
Angelegenheiten, die für Handel und Schiffahrt, 
die Zoll-, die Militär-, die Justiz-, die Beamten- 
kommission), die teils ihren eignen Geschäftskreis 
haben, innerhalb dessen sie selbständig entscheiden, 
teils nur eine vorbereitende und begutachtende 
Tätigkeit ausüben. Hiervon zu trennen sind die 
„gemeinsamen Kommissionen“, die aus Mitglie- 
dern des Senats und der Bürgerschaft für be- 
stimmte Fälle (Vorbereitung größerer Vorlagen 
u. dgl.) eingesetzt werden, ebenso die „Geheim- 
kommissionen“, die von der Bürgerschaft gewählt 
werden und bei einzelnen geheimzuhaltenden An- 
gelegenheiten grundsätzlich an Stelle der Bürger- 
schaft Beschluß fassen. Als Hilfsarbeiter stehen 
dem Senat (drei) Senatssekretäre (höhere Ver- 
waltungsbeamte) zur Seite; sie haben beratende 
Stimme. 
Meinungsverschiedenheiten zwischen Senat und 
Bürgerschaft werden, wenn es sich um Rechtsfragen 
handelt, vom Hanseatischen Oberlandesgericht, 
wenn sie Zweckmäßigkeitsfragen (Fragen des 
Staatswohls) betreffen, von einer „Entscheidungs- 
kommission“ (je 7 Mitglieder des Senats und der 
Bürgerschaft) entschieden. Die einzelnen Senatoren 
fungieren zugleich als Staatsbeamte und stehen an 
der Spitze der verschiedenen Verwaltungszweige; 
hierbei werden sie von besondern Berufsbeamten 
und Deputationen unterstützt, die sich aus Mit- 
gliedern des Senats und der Bürgerschaft zu- 
sammensetzen. Die wichtigsten Verwaltungsbehör- 
den sind das Polizeiamt, das Stadt= und Land- 
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