Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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tungsschulen (weniger treffend auch „Handels- 
vorschulen“ genannt) und in die Lehrlingsschulen. 
a) Die kaufmännischen Vorberei- 
tungsschulen werden von den aus der Volks- 
schule entlassenen Schülern auf ein oder zwei Jahre 
vor Eintritt in die Lehre besucht. Wo Fortbil= 
dungsschulzwang herrscht, befreit ihr Besuch von 
diesem. Auch pflegt die Lehrzeit für Schüler dieser 
Lehranstalten abgekürzt zu werden. Der Unterricht 
findet am Tage statt und kann durch verschiedene 
Klasseneinteilung in der mannigfachsten Weise 
variiert werden. Unterrichtsgegenstände sind fast 
ausschließlich die kaufmännischen Spezialfächer, 
wie kaufmännische Korrespondenz, kaufmännisches 
Rechnen, Warenkunde, Handels= und Wechsel- 
lehre, Buchhaltung und Kontorarbeiten, Volks- 
wirtschaftslehre, Maschinenschreiben usw.; von all- 
gemeinen Bildungsfächern natürlich die deutsche 
Sprache, Geographie, Geschichte, englische und 
französische Sprache, Zeichnen usp. — Im all- 
gemeinen sind diese Vorbereitungsschulen für männ- 
liche Zöglinge ziemlich selten. Desto beliebter schei- 
nen sie jedoch beim weiblichen Geschlecht zu sein; 
denn es existierten im ganzen 1906 etwa 104 
solcher Anstalten in Deutschland. Manche Städte 
haben ihren Handelslehranstalten besondere Mäd- 
chenabteilungen angegliedert, so z. B. Frankfurt 
a. M. und Düsseldorf. Ihre Unterrichtsgegen- 
stände sind im wesentlichen dieselben wie in den 
Vorbereitungsschulen für Knaben. 
b) Die Lehrlingsschulen bilden die kauf- 
männischen Fortbildungsschulen im eigentlichen 
Sinne und werden im Gegensatz zu den Vor- 
bereitungsschulen während der Lehrzeit besucht. 
Ihre Vermehrung und bessere Organisierung 
(Schulpflicht usw.) beschäftigt die verschiedenen 
Verbände der Handlungsgehilfen unausgesetzt. 
Im Parlament wird ihre Förderung vor allem 
durch das Zentrum betrieben. Die Unterrichts- 
stunden der Lehrlingsschulen fallen noch vielfach 
auf die Abende oder die Sonntagvormittage, ob- 
wohl wie bei Fortbildungsschulen (s. d. Art.) über- 
haupt entschieden das Bestreben immer allgemeiner 
hervortritt, sie in die Arbeitsstunden zu verlegen. 
Ihr Besuch ist vielfach noch fakultativ, doch wird 
er bei Neugründungen durchweg obligatorisch ge- 
macht, und auch die bisher freiwillig zu besuchen- 
den werden immer mehr in Pflichtschulen ver- 
wandelt, die sich in den letzten Jahren um über 
200 %% vermehrt haben; denn es hat sich gezeigt, 
daß nicht nur bei den Lehrlingen, sondern auch 
bei den Lehrherren oft recht wenig Neigung vor- 
handen ist, diesen Schulen Zeit und Kräfte zu 
opfern. Wo der Schulzwang besteht, wird er ge- 
wöhnlich bis zum 18. Lebensjahr ausgedehnt. Die 
Lehrkräfte dieser Schulen sind leider noch vor- 
wiegend nebenamtlich angestellt, doch sind die 
meisten nunmehr glücklicherweise berufsmäßig vor- 
gebildet. 
Die Lehrlingsschulen sind im Laufe der letzten 
Jahre in ein außerordentlich günstiges Entwick- 
Kaufmännisches Bildungswesen. 
  
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lungsstadium eingetreten. Die meisten hat jetzt 
Baden, wo z. B. 1906 auf 77000 Einwohner 
eine kaufmännische Fortbildungsschule kam, dann 
folgen der Reihe nach Sachsen und Württemberg. 
Auch Braunschweig und die thüringischen Staaten 
haben ein reich entwickeltes Lehrlingsschulwesen. 
Preußen ist erst ziemlich spät gefolgt, dann aber 
in immer schnellerem Tempo; gegenwärtig hat es 
über 300 kaufmännische Fortbildungsschulen. Ver- 
waltet werden diese Anstalten von Handelskam- 
mern, Kaufmannschaften, Handelsschulvereinen 
oder auch von Privatleuten. Die Unterhaltungs- 
kosten werden aus Unterstützungen dieser Korpo- 
rationen, Schulgeld (5—120 M jährlich) sowie 
aus Gemeinde= und Staatszuschüssen bestritten. 
Letztere sind am namhaftesten in Baden, Sachsen 
und Württemberg. Unentgeltlich zu besuchende 
Anstalten gibt es in Deutschland nur sehr wenige, 
1906 z. B. bloß 11. 
Der Unterricht der Lehrlingsschulen erstreckt sich 
durchweg über einen je einjährigen Ober-, Mittel- 
und Unterkurfus. Nur Lehrlinge mit dem Ein- 
jährig-Freiwilligen-Zeugnis kommen gewöhnlich 
mit einem einjährigen Kursus davon, in dem sie 
in meist 12 Wochenstunden noch Unterricht in 
französischer und englischer Sprache, kaufmänni- 
schem Rechnen, Handelskorrespondenz und Buch- 
haltung sowie in Wechsel= und Handelslehre er- 
halten. Für die Mitglieder des dreijährigen Kursus 
sind die genannten beiden Sprachen ebenso wie 
Stenographie und Maschinenschreiben wahlfrei. 
Dagegen erhalten sie zu den Fächern der Lehrlinge 
mit Einjährig-Freiwilligem-Zeugnis noch Unter- 
richt in Deutsch, Handelsgeographie, Warenkunde, 
Handels= und Wechsellehre, Schreiben. Die Zahl 
der Wochenstunden pflegt in allen 3 Klassen für 
die Pflichtfächer etwa je 8 zu sein, wozu für die 
wahlfreien Gegenstände noch 4 (III. Kl.), 6 
(II. Kl.) oder 8 (I. Kl.) Stunden pro Woche 
hinzukommen können. 
Der Besuch der kaufmännischen Fortbildungs- 
schulen für Mädchen ist in den letzten Jahren 
oft Gegenstand ernster Verhandlungen gewesen. 
Im allgemeinen liegen hier die Dinge gerade 
so wie bei den Fortbildungsschulen (s. d. Art.) 
überhaupt. Die Zwangsfortbildungsschule (auf 
Grund des § 120, Abs. 3 der Gewerbeordnung) 
für Handelsgehilfinnen existiert bis jetzt nur in 
einzelnen Städten. Doch arbeiten der Verband 
für das kaufmännische Unterrichtswesen wie auch 
die verschiedenen Vereine für weibliche Angestellte 
mit allem Nachdruck darauf hin, die kaufmännische 
Fortbildungsschule für alle Handelsgehilfinnen bis 
zum 17. oder 18. Lebensjahr obligatorisch zu 
machen, und es ist kein Zweifel, daß dieses er- 
strebenswerte Ziel in absehbarer Zeit erreicht wer- 
den wird. 
2. Die Handelsmittelschulen (in Oster- 
reich Handelsakademien genannt) sind höhere Lehr- 
anstalten, die jungen Kaufleuten eine wissenschaft- 
liche Ausbildung verschaffen wollen, und zwar,
	        
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