Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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ausstreut, ohne daß sie alle dem Gebrauch oder der 
Freude des Menschen dienen, wie er zahllose Keime 
des Lebens in Pflanzen-, Tier= und Menschen- 
welt erschafft, so kennt auch das Christentum einen 
Aufwand, der über die Schranken des individuellen 
Bedürfnisses hinausgeht. Allerdings trat schon 
von den ältesten Zeiten an innerhalb der christ- 
lichen Kirche eine aszetische Tendenz, ein Hang zur 
Weltentsagung und zu betrachtendem Einsiedler- 
leben hervor, und sie hat sich durch alle Zeit er- 
halten. Aber abgesehen davon, daß eine allgemeine 
Christenpflicht hierzu nicht besteht, muß man den 
hohen sittlichen Wert des darin liegenden Bei- 
spiels für die nur zu leicht im Genußleben ver- 
sinkende Welt anerkennen. Freilich traten mit 
der Reformation entgegengesetzte Anschauungen 
hervor, durch die an Stelle der Aszese Lebens- 
freudigkeit gesetzt werden soll. Die Kirche tadelt 
nicht das Streben, die äußere Lebenshaltung ästhe- 
tisch oder praktisch zu vervollkommnen. Und der 
päpstliche Hof war vielfach selbst die Stätte von 
Kunstliebe und Prachtentfaltung. 
Übelwollende Kritiker des modernen Luxus ver- 
fallen gern in den Fehler, Ausschreitungen des 
Genußlebens ausschließlich der Gegenwart zur 
Last zu legen. Ohne dieselben zu beschönigen, kann 
man doch in der Entwicklung des Luxus einen 
Fortschritt, einen Sieg der Vernunft nicht ver- 
kennen. Der Luxus früherer Zeiten war bei den 
primitiven Kulturzuständen meist explosiver Natur. 
„Bei bestimmten festlichen Anlässen wurde mit 
Pracht und Prunk nicht gespart; nachher lebte 
man um so dürftiger und armseliger. Es bedeutet 
einen wirklichen Fortschritt, wenn der Luxus mehr 
das tägliche Leben durchdringt. Die Zügellosig- 
keit des Genießens und die ungesunde Versuchung 
weichen dem ästhetischen Behagen und der Freude 
am Reizvollen. Frühere Zeiten richteten ihr Augen- 
merk auf Vermeidung von Anstrengungen und 
Unannehmlichkeiten. Hente umfaßt der Luxus 
die Pflege höherer und feinerer Lebensfreuden“, 
(Traub a. a. O. 140; vgl. Felix, Der moderne 
Reichtum (/1906] 95). Zu tadeln ist die reichere 
und feinere Bedürfnisbefriedigung keineswegs. 
Nur ist notwendig, daß die sittlichen Kräfte eines 
  
Luxus ufw. 
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Mit Recht. Aber sie ist nur zu geneigt, in dem 
christlichen Gebot der Entsagung eine Fessel des 
wirtschaftlichen Fortschritts zu erblicken. Es fehlt 
nicht an prinzipiellen und praktischen Gegnern der 
Bedürfnislosigkeit. Der Gedanke, sich einschränken 
zu sollen, ist manchen unerträglich. Insbesonders 
verwirft der Sozialismus die „verdammte Genüg- 
samkeit“, die das Volk zu keinem höheren Klassen- 
bedarf emporsteigen läßt, sondern auf tiefen Stufen 
der Lebenshaltung festhält. Steigert nach Kräften 
eure Bedürfnisse — das ist das Motio der sozia- 
listischen Agitatoren —, spart nicht, sondern gebt 
aus und verlangt das größtmögliche Maß von 
Lebensgenüssen, sonst verringert ihr den Konsum 
und damit die Arbeit. Der Agrarsozialist M. Flür- 
scheim sagt: „Dem Volke Mäßigkeit, Nüchtern- 
heit, Sparsamkeit empfehlen, heißt die Absatznot 
und den Arbeitsmangel und die Arbeitsnot ver- 
größern.“ 
Eine Bekämpfung des Luxus bezweckten die bis 
gegen Ende des 18. Jahrh. beinahe allerwärts 
bestehenden Sitten= und Kleiderord- 
nungen und Luxussteuergesetze. Letztere 
bezweckten neben dem finanziellen Zweck der 
Heranziehung der Reichen zur Steuer die Be- 
kämpfung des Luxus. Schon im alten Rom kannte 
man derartige gesetzliche Bestimmungen. Solche 
Maßregeln haben sich meist als ohnmächtig er- 
wiesen oder sie schädigten bisweilen andere berech- 
tigte Zwecke. „Sie hatten nicht den Zweck, dem 
entnervenden und verweichlichenden Luxus selbst 
vorzubeugen; sie wollten ihn geradezu behüten 
und nur gegen Nachahmung durch Leute schützen, 
denen man dieses Vorrecht nicht gestatten wollte. 
Jeder sollte in seinem Stande bleiben und dazu 
obrigkeitlich gezwungen werden. Es waren 
klassenethische Gesetze, die scheitern mußten, sobald 
die Stände über den Haufen geworfen waren“ 
(Traub a. a. O. 143). Freilich sind uns derartige 
Bestimmungen fremd und unverständlich geworden. 
Solange aber Ständeordnungen bestanden, Stan- 
desgeist und Standessitte den einzelnen beherrsch- 
ten, lassen sich derartige Luxusgesetze wohl be- 
greifen. Sie wollten den Ubergriffen des niederen 
Standes in den höheren wehren. Mit dem 
Volkes stark genug sind, um die darin liegende Schwinden des Standesgeistes und dem Zu- 
Gefahr, daß das Genußleben für einzelne oder sammenbruch der Ständeordnungen waren freilich 
weite Kreise allzu große Bedeutung gewinne, zu jene Gesetze zu inhaltslosen Formeln erstarrt. Aber 
verhüten (Schmoller, Grundriß I 26). Es ist sie hatten auch teilweise gute Erfolge: In Florenz 
daher ein Segen für die Menschheit, daß die war durch solche Gesetze im Anfang des 15. Jahrh. 
Religion die Pflicht der Entsagung verkündet und der Aufwandan Kleidung, Tafel, Dienerschaftusw. 
dem Zuge nach schrankenloser Bedürfnissteigerung beschränkt, dagegen schrankenlos an Kirchen, Pa- 
Halt gebietet, dem Genusse die Genügsamkeit als lästen, Bibliotheken, Kunstwerken (Roscher, Grund- 
Wächterin an die Seite gibt und durch Pflege lagen 640 A. 1). 
eines haushälterischen Sinnes in Familie und Die Geschichte zeigt allerdings, daß nahezu 
Gesellschaft dem Frieden dient. Schon Christus alle Luxusgesetze erfolglos waren, vor allem des- 
hat die Pflicht betont, die höheren Zwecke des halb, weil eine Beaussichtigung der Konsumtion 
Menschenlebens dem Genießen gegenüber zu be= weit weniger durchzuführen ist als eine Reglung 
haupten (Matth. 6). der Produktion. Durchgreifender wirkt das Bei- 
Die Nationalökonomie preist die wirtschaftliche spiel einflußreicher Persönlichkeiten und eine sitt- 
Bedeutung der Bedürfnis= und Luxussteigerung. liche Erziehung des einzelnen wie der Gesamtheit.
	        
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