Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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der Väter der Gesellschaft Jesu herangebildet, 
studierte bis 1774 Rechtswissenschaft an der Uni- 
versität in Turin, trat dann zu Chambery in die 
Rechtspraxis über, wurde 1788 Senator, floh 
1792 nach der Okkupation seines Heimatlandes 
durch die Franzosen, deren Herrschaft er sich nicht 
unterwarf, nach Aosta und später nach Lausanne, 
wo er einen dreijährigen Aufenthalt nahm. Nach 
Verlust aller seiner in Savoyen gelegenen Güter 
hatte er vielfach mit bitterer Not zu kämpfen, hielt 
aber in allen, oft drangsalvollen Lagen seinem 
König unverbrüchliche Treue. 1796 nach Turin 
gerufen, flüchtete er nach der Besetzung Piemonts 
durch die Franzosen 1798 zum zweitenmal, nahm 
mit seiner Familie vorübergehenden Aufenthalt in 
Venedig, bis er von seinem nach Sardinien ge- 
flüchteten König 1800 mit dem Amt eines Kanzlei- 
präsidenten für diese Insel betraut wurde. 1802 
wurde er als Gesandter nach St Petersburg ge- 
schickt, um durch den Einfluß des Kaisers Alexander 
eine Wiedereinsetzung seines Königs in den ver- 
loren gegangenen Staatenbesitz oder wenigstens 
eine angemessene Entschädigung hierfür zu er- 
wirken. Zwölf Jahre hindurch verfolgte er, ge- 
trennt von seiner nach Turin übergesiedelten Fa- 
milie, unablässig jenes Ziel unter den wechselndsten 
Verhältnissen, stets für die Sache seines Königs 
wirkend trotz der Ungnade, in die er zeitweise bei 
ihm gefallen war, und trotz der verlockenden An- 
gebote, in russische Dienste zu treten. Seiner her- 
vorragenden Bildung halber stand er in hohem 
Ansehen bei Kaiser Alexander, wußte namentlich 
auch dem Orden der Jesuiten, deren Kollegien in 
Rußland nicht aufgehoben worden waren, Schutz 
zu erwirken, bis er ihnen aus Anlaß mancher in 
den höheren Ständen eingetretenen Konversionen 
entzogen wurde. 1817 von seinem König, der in- 
folge des Wiener Kongresses den alten Länder- 
besitz wieder erlangt hatte, nach Turin zurückge- 
rufen, wurde er mit der Würde eines Präsidenten 
der großen Kanzlei bekleidet und zum Mitgliede 
der Turiner Akademie der Wissenschaften erwählt. 
Er starb am 26. Febr. 1821 zu Turin und wurde 
in der dortigen Jesuitenkirche bestattet. 
Graf de Maistre ist einer der fruchtbarsten und 
einflußreichsten Schriftsteller der Gegenrevolution. 
Er tritt oft bis ins Übermaß für die Autorität 
ein und doch hinwiederum für Gerechtigkeit und 
Freiheit, kennzeichnet sich also als Mann der 
Loyalität ohne Servilismus. Er ist mehr geist- 
reich als tief; der Geist sprüht unter seiner Feder. 
Seine Rede läuft mehr fort in blitzendem Zickzack 
als in ebenmäßigem Gange. Wenn er mit der 
Lauge beißenden Witzes und Spottes auch oft- 
mals seine Gegner überschüttet, offenbart er trotz- 
dem doch immer ein edles und edelmännisches 
Herz. Er ist ein rückwärts und vorwärts schauen- 
der Geist zumal, ohne die Zukunft schablonen- 
mäßig nach der Vergangenheit modellieren zu 
wollen, ohne also ein Anwalt des ancien régime 
schlechthin und in allem zu sein. 
Maistre. 
  
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Die Rechts= und Staatslehre de Maistres findet 
sich der Hauptsache nach schon niedergelegt in der 
1794/96 zu Lausanne geschriebenen, aber erst nach 
seinem Tode herausgegebenen „Studie über die 
Souveränität“ (Etude sur la souverainet6), 
dann in den „Betrachtungen über Frankreich“, 
in dem „Versuch über das bildende Prinzip der 
Staatsverfassungen“ und im zweiten Buche des 
Werkes „Über den Papst“. Die Souveräni- 
tät ist von Gottes Gnaden, nicht von Volkes 
Gnaden; der contrat social ist leere Einbildung. 
Auch die verschiedenen Verfassungsformen, unter 
denen sie hervortritt, sind keine bloß willkürlichen 
Gebilde. Sie sind ebenfalls von Gottes und nicht 
von Volkes Gnaden. Sie wachsen aus der Natur 
der Völker und ihren moralischen, physischen und 
geographischen Beschaffenheiten und Verhältnissen 
heraus, die samt und sonders das unmittelbare 
Werk des allschöpferischen und allleitenden Gottes- 
willens sind, wenngleich sie mehr oder minder auch 
kraft menschlicher Zustimmung und Ubereinstim- 
mung zu stande kommen und deklariert werden 
können. Wie die Sprachen nicht durch willkür- 
liche Ubereinkunft gebildet und fortgebildet werden, 
so auch nicht die Staaten und ihre verschiedenen 
Verfassungen. Die heiligen Bücher zeigen uns den 
ersten König des auserwählten Volkes als erwählt 
und gekrönt bei unmittelbarer Dazwischenkunft 
Gottes, und die Annalen aller Völker des Uni- 
versums weisen ihren Regierungen denselben Ur- 
sprung zu und führen die Reihenfolge ihrer Fürsten 
zuletzt in mythischer Zeit auf wunderbare Inter- 
vention Gottes zurück. Es steht geschrieben: „Ich 
bin es, der die Könige einsetzt, und durch mich 
regieren sie“ (Spr. 8, 15). Das ist nicht bloß ein 
Wort der Kirche, nicht bloß eine rednerische Me- 
tapher, das ist buchstäbliche, einfache und greifbare 
Wahrheit, das ist ein Weltgesetz. Für bestimmte 
Völker kann die despotische Verfassungsform ebenso 
natürlich und legitim sein, wie für andere die de- 
mokratische, aristokratische oder monarchische, ohne 
despotischen Charakter zu haben. Im allgemeinen 
erscheint übrigens die monarchische Verfassungs- 
form als die älteste und naturgemäßeste, weil sie 
am meisten vor Zerklüftungen und Empörungen 
sichert. Es liegt besonders im Geiste der durch das 
Christentum zivilisierten europäischen Nationen, 
die monarchische Gewalt in ihrem Vollbestande zu 
wahren und mit der Freiheit der Völker zu ver- 
söhnen: das erstere dadurch, daß vom Monarchen 
alle staatlichen Gewalten ausfließen; das zweite 
dadurch, daß die zivile und kriminelle Richter- 
gewalt nur mittelbar von ihm ausgeübt wird und 
die Anliegen des Volkes durch irgend welche re- 
präsentative Körperschaften ihm kund werden 
können (vol. Euvres compleètes I 232, 329 
bis 330, 424, 444/448, 495). Wie das König- 
tum von Gottes Gnaden ist, so auch der natür- 
liche Adel, der nur eine Verlängerung (pro- 
longement) der Souveränität, magnum lovis 
incrementum ist und durch den Souverän nur
	        
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