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patione oder in titulo), der als allgemeiner
Feind von jedem der Herrschaft und des Lebens
beraubt werden dürfe, und einem rechtmäßigen,
aber entarteten Herrscher (tyrannus in regimine
resp. abusu regiminis). Bei letzterem sei mit
großer Vorsicht zu verfahren, damit die Beseitigung
eines Übels nicht andere, größere mit sich führe.
Erst wenn er alle menschlichen und göttlichen
Rechte verachte, den Staat zu Grunde richte, sei
gegen ihn, wo möglich durch eine allgemeine Ver-
sammlung der Stände, einzuschreiten, zuerst mit
Warnungen, sodann, wenn diese fruchtlos blieben,
mit Kündigung des Gehorsams, und wenn dann
der Tyrann Gewalt brauchen wollte, mit Erklärung
des Krieges, zuletzt, wenn die Not es erheische.
damit daß der Tyrann als öffentlicher Feind in
die Acht erklärt und getötet werde. Wenn aber
keine Versammlung der Stände möglich, jedoch
der allgemeine Wille des Volkes, die offenbare
und unerträgliche Tyrannei des Fürsten nicht zu
dulden, konstatiert und kein anderes Rettungs-
mittel übrig sei: dann würde „nach des Verfassers
Ansicht derjenige nicht ungerecht handeln“ (haud-
quaquam inique eum fecisse existimabo),
welcher, dem allgemeinen Verlangen entgegen-
kommend, nach Einholung des Rates gelehrter
und ernster Männer es versuchte, dem Tyrannen
das Leben zu nehmen, weil er dann nicht privata
auctoritate, sondern präsumtiv publica aucto-
ritate handle; indes erklärt Mariana dies aus-
drücklich als seine subjektive Ansicht, über die er
sich gern eines Besseren belehren lassen wolle.
Es ist kein Zweifel, daß Mariana namentlich
in dem Punkte, welchen er als seine persönliche
Meinung bezeichnet, sachlich zu weit gegangen ist
und überhaupt infolge seiner Hingabe an die alten
Klassiker in seiner ganzen Darstellung durch die zu
verschiedenen Mißverständnissen Anlaß bietende
rhetorische Form das rechte Maß überschritten hat.
Wenn er aber darum Tadel verdient trotz der
wohlgemeinten Absicht, die Fürsten von der Ty-
rannei abzuschrecken, so haben doch diejenigen,
welche am lautesten über ihn aburteilten und noch
aburteilen, kein Recht, einen Stein auf ihn zu
werfen. Die Pariser Universität, welche im Jahre
1610, bei Gelegenheit der Ermordung Hein-
richs IV. durch Ravaillac, das Buch mit Ent-
rüstung verdammte, und das Pariser Parlament,
das es zur Verbrennung auf dem Scheiterhaufen
verurteilte, hatten 20 Jahre früher selbst die Er-
mordung Heinrichs III. mit Wort und Tat be-
günstigt und gefeiert. Und vollends haben in allen
Ländern Europas im 16. und 17. Jahrh. eine
große Anzahl protestantischer Koryphäen, von
Melanchthon und Beza angefangen, den Tyrannen=
mord ohne so viele Kautelen, wie Mariana, ver-
teidigt und empfohlen.
Eine grobe Unwahrheit aber war es, daß man
die persönliche Ansicht Marianas sofort seinem
ganzen Orden zuschrieb. Nicht nur hat der Or-
densgeneral Aquaviva durch Dekret vom 6. Juli
Marinewesen.
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1610 den Mitgliedern der Gesellschaft Jesu strenge
und unter schweren Strafen untersagt, „irgendwie
zu lehren oder zu behaupten: es sei einem jeden
gestattet, unter irgend welchem Vorwande von
Tyrannei Könige oder Fürsten zu töten oder einen
Mordversuch auf sie zu machen — damit nicht
unter diesem Vorwande der Weg gebahnt werde
zum Verderben der Fürsten, welche man nach
göttklichem Gebote als geweihte Personen und als
von Gott dem Herrn zum Heile der Völker in
jenen Stand versetzt ansehen müsse“; man findet
auch tatsächlich bei keinem andern Theologen aus
dem Jesuitenorden, sowohl vor wie nach diesem
Dekret, die in demselben verbotene Sondersentenz
Marianas aufgestellt. Wenn ein Teil dieser Theo-
logen bezüglich der Tötung des unrechtmäßigen
Fürsten, viele aber bezüglich der infolge der Ab-
setzung von seiten der Reichsstände sich ergebenden
richterlichen Verurteilung zum Tode und Acht-
erklärung mit Mariana übereinstimmen, so stehen
die betreffenden Jesuitentheologen in diesen Punk-
ten nicht allein; sie treten vielmehr nur in die
Fußstapfen sehr vieler anderer Theologen, ja be-
züglich des zweiten Punktes geben sie geradezu das
geltende Staatsrecht des Mittelalters (vgl. d. Art.
Absetzung) wieder, wie denn speziell auch zum Ver-
ständnis von Marianas Meinung die alten, sehr
weitgehenden Rechte der spanischen Cortes bedacht
werden müssen.
Literatur. Vgl. Garzon, El Padre Juan de
Mariana y las escuelas liberales (Madr. 1889);
Duhr, Jesuitenfabeln (71904) 722/742. Über seine
Bedeutung als Historiker handelt G. Cirot in der
ersten seiner Etudes sur TPhistoriographie es-
pagnole: Mariana, historien (Par. 1904).
lScheeben, rev. Ettlinger.]
Marinewesen. IA. Begriff und Bedeu-
tung der Marine. B. Zur Geschichte des Marine-
wesens. I. Allgemeines; II. Deutschland; III. Eng-
land. C. Reglung des Marinewesens des Deut-
schen Reichs. I. Verfassung; II. Dienstpflicht;
III. Schiffsbestand; IV. Personalbestand;
V. Reichskriegshäfen; VI. Behördenorganisation;
VII. Kosten.)
A. Begriff und Bedentung der Marine.
Im Gegensatz zu der für Kriegszwecke bestimmten
Landmacht des Staates, dem Heer, wird unter
der Marine (Kriegsmarine, im Gegensatz zur
Handelsmarine) die für Kriegszwecke bestimmte
Seemacht des Staates verstanden. Das freie
Meer als die natürliche Wasserstraße für den
Weltverkehr der Völker und die diesen Verkehr
vermittelnde Seeschiffahrt, sowie die überseeischen
Besitzungen und Unternehmungen erfordern zu
ihrem Schutz eine bewaffnete Macht des Staates,
welche geeignet ist, an Ort und Stelle wirksam
einzugreifen, also eine Macht zur See. Je mehr
die Völker durch Seehandel, Seeschiffahrt, See-
schiffsbau, Hochseefischerei, überseeische Erwerbun-
gen und Geschäfte, namentlich Kolonien, ihre
Seeinteressen steigern, desto mehr wächst auch das