Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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patione oder in titulo), der als allgemeiner 
Feind von jedem der Herrschaft und des Lebens 
beraubt werden dürfe, und einem rechtmäßigen, 
aber entarteten Herrscher (tyrannus in regimine 
resp. abusu regiminis). Bei letzterem sei mit 
großer Vorsicht zu verfahren, damit die Beseitigung 
eines Übels nicht andere, größere mit sich führe. 
Erst wenn er alle menschlichen und göttlichen 
Rechte verachte, den Staat zu Grunde richte, sei 
gegen ihn, wo möglich durch eine allgemeine Ver- 
sammlung der Stände, einzuschreiten, zuerst mit 
Warnungen, sodann, wenn diese fruchtlos blieben, 
mit Kündigung des Gehorsams, und wenn dann 
der Tyrann Gewalt brauchen wollte, mit Erklärung 
des Krieges, zuletzt, wenn die Not es erheische. 
damit daß der Tyrann als öffentlicher Feind in 
die Acht erklärt und getötet werde. Wenn aber 
keine Versammlung der Stände möglich, jedoch 
der allgemeine Wille des Volkes, die offenbare 
und unerträgliche Tyrannei des Fürsten nicht zu 
dulden, konstatiert und kein anderes Rettungs- 
mittel übrig sei: dann würde „nach des Verfassers 
Ansicht derjenige nicht ungerecht handeln“ (haud- 
quaquam inique eum fecisse existimabo), 
welcher, dem allgemeinen Verlangen entgegen- 
kommend, nach Einholung des Rates gelehrter 
und ernster Männer es versuchte, dem Tyrannen 
das Leben zu nehmen, weil er dann nicht privata 
auctoritate, sondern präsumtiv publica aucto- 
ritate handle; indes erklärt Mariana dies aus- 
drücklich als seine subjektive Ansicht, über die er 
sich gern eines Besseren belehren lassen wolle. 
Es ist kein Zweifel, daß Mariana namentlich 
in dem Punkte, welchen er als seine persönliche 
Meinung bezeichnet, sachlich zu weit gegangen ist 
und überhaupt infolge seiner Hingabe an die alten 
Klassiker in seiner ganzen Darstellung durch die zu 
verschiedenen Mißverständnissen Anlaß bietende 
rhetorische Form das rechte Maß überschritten hat. 
Wenn er aber darum Tadel verdient trotz der 
wohlgemeinten Absicht, die Fürsten von der Ty- 
rannei abzuschrecken, so haben doch diejenigen, 
welche am lautesten über ihn aburteilten und noch 
aburteilen, kein Recht, einen Stein auf ihn zu 
werfen. Die Pariser Universität, welche im Jahre 
1610, bei Gelegenheit der Ermordung Hein- 
richs IV. durch Ravaillac, das Buch mit Ent- 
rüstung verdammte, und das Pariser Parlament, 
das es zur Verbrennung auf dem Scheiterhaufen 
verurteilte, hatten 20 Jahre früher selbst die Er- 
mordung Heinrichs III. mit Wort und Tat be- 
günstigt und gefeiert. Und vollends haben in allen 
Ländern Europas im 16. und 17. Jahrh. eine 
große Anzahl protestantischer Koryphäen, von 
Melanchthon und Beza angefangen, den Tyrannen= 
mord ohne so viele Kautelen, wie Mariana, ver- 
teidigt und empfohlen. 
Eine grobe Unwahrheit aber war es, daß man 
die persönliche Ansicht Marianas sofort seinem 
ganzen Orden zuschrieb. Nicht nur hat der Or- 
densgeneral Aquaviva durch Dekret vom 6. Juli 
Marinewesen. 
  
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1610 den Mitgliedern der Gesellschaft Jesu strenge 
und unter schweren Strafen untersagt, „irgendwie 
zu lehren oder zu behaupten: es sei einem jeden 
gestattet, unter irgend welchem Vorwande von 
Tyrannei Könige oder Fürsten zu töten oder einen 
Mordversuch auf sie zu machen — damit nicht 
unter diesem Vorwande der Weg gebahnt werde 
zum Verderben der Fürsten, welche man nach 
göttklichem Gebote als geweihte Personen und als 
von Gott dem Herrn zum Heile der Völker in 
jenen Stand versetzt ansehen müsse“; man findet 
auch tatsächlich bei keinem andern Theologen aus 
dem Jesuitenorden, sowohl vor wie nach diesem 
Dekret, die in demselben verbotene Sondersentenz 
Marianas aufgestellt. Wenn ein Teil dieser Theo- 
logen bezüglich der Tötung des unrechtmäßigen 
Fürsten, viele aber bezüglich der infolge der Ab- 
setzung von seiten der Reichsstände sich ergebenden 
richterlichen Verurteilung zum Tode und Acht- 
erklärung mit Mariana übereinstimmen, so stehen 
die betreffenden Jesuitentheologen in diesen Punk- 
ten nicht allein; sie treten vielmehr nur in die 
Fußstapfen sehr vieler anderer Theologen, ja be- 
züglich des zweiten Punktes geben sie geradezu das 
geltende Staatsrecht des Mittelalters (vgl. d. Art. 
Absetzung) wieder, wie denn speziell auch zum Ver- 
ständnis von Marianas Meinung die alten, sehr 
weitgehenden Rechte der spanischen Cortes bedacht 
werden müssen. 
Literatur. Vgl. Garzon, El Padre Juan de 
Mariana y las escuelas liberales (Madr. 1889); 
Duhr, Jesuitenfabeln (71904) 722/742. Über seine 
Bedeutung als Historiker handelt G. Cirot in der 
ersten seiner Etudes sur TPhistoriographie es- 
pagnole: Mariana, historien (Par. 1904). 
lScheeben, rev. Ettlinger.] 
Marinewesen. IA. Begriff und Bedeu- 
tung der Marine. B. Zur Geschichte des Marine- 
wesens. I. Allgemeines; II. Deutschland; III. Eng- 
land. C. Reglung des Marinewesens des Deut- 
schen Reichs. I. Verfassung; II. Dienstpflicht; 
III. Schiffsbestand; IV. Personalbestand; 
V. Reichskriegshäfen; VI. Behördenorganisation; 
VII. Kosten.) 
A. Begriff und Bedentung der Marine. 
Im Gegensatz zu der für Kriegszwecke bestimmten 
Landmacht des Staates, dem Heer, wird unter 
der Marine (Kriegsmarine, im Gegensatz zur 
Handelsmarine) die für Kriegszwecke bestimmte 
Seemacht des Staates verstanden. Das freie 
Meer als die natürliche Wasserstraße für den 
Weltverkehr der Völker und die diesen Verkehr 
vermittelnde Seeschiffahrt, sowie die überseeischen 
Besitzungen und Unternehmungen erfordern zu 
ihrem Schutz eine bewaffnete Macht des Staates, 
welche geeignet ist, an Ort und Stelle wirksam 
einzugreifen, also eine Macht zur See. Je mehr 
die Völker durch Seehandel, Seeschiffahrt, See- 
schiffsbau, Hochseefischerei, überseeische Erwerbun- 
gen und Geschäfte, namentlich Kolonien, ihre 
Seeinteressen steigern, desto mehr wächst auch das
	        
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