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es, als ein großes Volk seinen Platz in der Welt
zu behaupten, mit einem Wort, zur Weltpolitik.
Der Ozean ist unentbehrlich für Deutschlands
Größe; aber der Ozean beweist auch, daß auf ihm
und in der Ferne jenseits von ihm ohne Deutsch-
land und ohne den Deutschen Kaiser keine große
Entscheidung mehr fallen darf“ (Wilhelmshaven,
4. Juli 1900).
Die weittragendsten Anderungen des deutschen
Marinewesens sind schließlich durch die beiden
Flottengesetze vom 10. April 1898 und
14. Juni 1900 herbeigeführt worden, welche den
Schiffsbestand der Marine und dessen Erneuerung
sowie die Indiensthaltung und den Personal-
bestand der Flotte gesetzlich regelten und sicher-
stellten. Diese Gesetze haben für unsere Schlacht-
flotte, Auslandsflotte und Materialreserve eine
dauernde Rechtsgrundlage geschaffen; die wesent-
lichen Einzelheiten ihrer Bestimmungen sind im
folgenden näher darzustellen. Die Regierungs-
vorlagen stießen, da ein Verständnis für die Be-
deutung der Flotte noch wenig in Deutschland
verbreitet war, auf schwere Bedenken im Reichs-
tag, namentlich wegen der Bindung des Etats-
rechts; das Zustandekommen beider Gesetze ist
wesentlich der Zentrumsfraktion zu danken, deren
große Mehrheit unter Führung des Abgeordneten
Dr Lieber für die Annahme eintrat. Aus den
Motiven des ersten Flottengesetzes, welches für die
Schlachtflotte als Kern ein Flottenflaggschiff und
ein Doppelgeschwader zu je 8 Linienschiffen for-
derte, ist hervorzuheben, daß als neue Aufgabe
der Kriegsmarine, außer den im Flottengrün-
dungsplan von 1873 bezeichneten Aufgaben, nun-
mehr noch der Schutz der Kolonien angeführt und
bezüglich der Entwicklung des eignen Offensiv=
vermögens bemerkt wurde: „Die Aufgabe der
Schlachtflotte ist die Verteidigung der
heimischen Küsten. Ausschließlich hiernach
ist die Zahl und Größe der Schiffe bemessen.
Größeren Seemächten gegenüber hat
die Schlachtflotte lediglich die Beden-
tung einer Ausfallflotte.“ Die Kosten
des ersten Flottengesetzes waren auf 482,8 Mill. M
berechnet (einschließlich 63.5 Mill. der schon im
Bau begriffenen und auf den Sollbestand der
Flotte anzurechnenden Schiffe). Das zweite Flot-
tengesetz verlangte und erlangte eine Verdoppe-
lung der im ersten Flottengesetz festgestellten Flotte,
so daß der Bestand der deutschen Kriegsschiffe —
Schlachtflotte, Auslandsflotte und Materialreserve
zusammengerechnet — nunmehr im ganzen 38
Linienschiffe, 14 große Kreuzer, 38 kleine Kreuzer
zu betragen hatte. In den Motiven der neuen
Vorlage wurde diese unerwartet rasche Vermeh-
rung der Flotte mit folgenden Gründen gerecht-
fertigt:
„Umunterdenbestehenden Verhältnissen Deutsch-
lands Seehandel und Kolonien zu schützen, gibt es
nur ein Mittel: Deutschland muß eine so
starke Schlachtflotte besitzen, daß ein
Staatslexikon. III. 3. Aufl.
Marinewesen.
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Krieg auch für den seemächtigsten Gegner
mit derartigen Gefahren verbundenist,
daß seine eigne Machtstellung in Frage
gestellt wird. Zu diesem Zweck ist es nicht un-
bedingt erforderlich, daß die deutsche Schlachtflotte
ebenso stark ist als die der größten Seemacht, denn
eine große Seemacht wird im allgemeinen nicht in
der Lage sein, ihre sämtlichen Streitkräfte gegen
uns zu konzentrieren. Selbst wenn es ihr aber auch
gelingt, uns mit größerer Übermacht entgegen-
zutreten, würde die Niederkämpfung einer starken
deutschen Flotte den Gegner doch so erheblich schwä-
chen, daß dann trotz des etwa errungenen Sieges
die eigne Machtstellung zunächst nicht mehr durch
eine ausreichende Flotte gesichert wäre.“
Durch die Novelle vom 5. Juni 1906 wurde
der Schiffsbestand bei der Auslandsflotte um 5
große Kreuzer, bei der Materialreserve um 1
großen Kreuzer vermehrt. Durch eine Novelle vom
6. April 1908 wurde die Frist für den Ersatzbau
der Kriegsschiffe für Linienschiffe und Kreuzer
gleichmäßig festgesetzt und damit die im Flotten-
gesetz für Linienschiffe bestimmte Frist von 25
Jahren auf 20 Jahre verkürzt. Angefügt mag
noch werden, daß kurz nach der Annahme des
ersten Flottengesetzes am 30. April 1898 zu
Berlin der „Deutsche Flottenverein“ ge-
gründet wurde, welcher nach dem Vorgang der in
England 1895 gegründeten Navy League sich
das Ziel stellte, „das Verständnis und das In-
teresse des deutschen Volkes für die Bedeutung und
die Aufgabe der Flotte zu wecken, zu pflegen und
zu stärken“ (§2 der Satzung). Der Verein ist
jedoch in seiner unter hoher Protektion betriebenen
Marineagitation über diese Aufklärungsarbeit
weit hinausgegangen und hat durch seine Marine-
forderungen den verantwortlichen Marinebehörden
schwere Stunden bereitet. Die Zahl der Vereins-
mitglieder belief sich am 31. Dez. 1908 auf
307 884 Einzelmitglieder und 699 679 körper-
schaftliche Mitglieder.
III. England. Infolge der jahrhundertelang
dauernden Schwäche Deutschlands gelang es Eng-
land, seit der Mitte des 17. Jahrh. sich zur ersten
Seemacht der Welt aufzuschwingen. Um sich in
dieser Machtstellung zu erhalten, befolgt die eng-
lische Politik seit langer Zeit den Grundsatz, die
Kriegsflotte in einer Stärke zu halten, daß sie den
Flotten der beiden nächststarken Seemächte zu-
sammen gleichkommt. Dieser TVo Power
Standard (Zwei-Mächte-Standard), den z. B.
schon Minister Salisbury im Parlament am
27. Mai 1889 (Hansards Parlamentary De-
bates for Session 1889, S. 1062) zum Aus-
druck gebracht hat, richtete seine Spitze ursprüng-
lich gegen die französische und russische Flotte. In
Verfolgung dieser Politik hat England durch das
Flottengesetz vom 31. Mai 1889, Naval Defence
Act, den Bau von 70 neuen Kriegsschiffen inner-
halb fünf Jahren mit einem Gesamtaufwand von
mehr als 466 Mill. M festgesetzt und dann auch
durchgeführt. Schon 1894 folgte ein weiteres
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