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auswärtige Angelegenheiten, Justiz, Krieg und
Finanzen; für auswärtige Angelegenheiten resi-
diert ständig ein Stellvertreter des Wesirs in
Tanger. Die gesamte Zentralverwaltung wird ge-
wöhnlich Machsen genannt.
Zu Verwaltungszwecken ist das Land in eine
wechselnde Anzahl von Provinzen, besser Land-
schaften (Amalate) eingeteilt, die von Amilen oder
Kaids (in Fes, Marrakesch, Meknes und Rabat
Pascha genannt) verwaltet werden. Hauptauf-
gabe der Kaids, die fast unumschränkt herrschen,
ist Eintreibung der Steuern und Ausführung der
Gerichtsurteile; die meisten sind gewalttätig und
suchen aus der Bevölkerung möglichst viel heraus-
zupressen. Ihre Ernennung steht im Belieben des
Sultans, der aber meist einflußreiche Angehörige
des Stammes oder den Meistbietenden ernennt;
vielfach ist er auch gezwungen, schon vorhandene
Stammeshäuptlinge als Kaids anzuerkennen. In
den nach Stämmen geteilten Gebieten hat jede
Vereinigung von Dörfern ihren Scheich. dessen
Gewalt durch die Dschemma (Versammlung der
erwachsenen Männer) vielfach eingeengt ist, jedes
Dorf (Duar) seinen Mul-al-Duar. In die innere
Verwaltung der Stämme greift der Sultan nicht
ein. Die maurische Bevölkerung in den Städten
hat eine primitive Städteordnung mit Kaids (der
hier auch als Richter bei den Streitigkeiten zwischen
Europäern und Moslim zu entscheiden hat), Moh-
tassebs (eine Art Vorsteher der Kaufmannschaft,
mit Aufsichtsrecht über Waren, Maße, Gewichte
und die Korporationen) und Umanas (Steuer-
erhebern). Die Ausländer unterstehen ihren
Konfuln.
Die Rechtspflege, ein Teil des Kirchen-
wesens, ist verwickelt und langwierig. Einzig an-
erkanntes Gesetzbuch ist der Koran. Der oberste
Richter, der vom Sultan ernannte Kadi el-
Dschemma von Fes, ernannte seinerseits früher die
Kadis der Provinzen; seit längerer Zeit hat die
Regierung auch die Einsetzung dieser an sich ge-
zogen. Die Strafen sind zum Teil von empören-
der Grausamkeit. Wegen der Bestechlichkeit der
Kadis lassen die Eingebornen ihre Streitfälle
unter sich häufig durch Schiedsrichter (meist mo-
hammedanische „Heilige") schlichten. Bei Strei-
tigkeiten Eingeborner mit Europäern ist, falls der
Eingeborne Beklagter ist, das einheimische Gericht
zuständig; ist dieser ein „Schutzbefohlener“, oder
der Europäer der Beklagte, so entscheiden die Kon-
sulargerichte, ebenso bei Streitigkeiten zwischen
Europäern. — Die diplomatischen Vertreter der
fremden Mächte residieren in Tanger. Deutsch-
land unterhält in Marokko 1 Gesandtschaft,
3 Konsulate, 5 Bizekonsulate, und 1 Konsular-
agentur. — Eine eigenartige Einrichtung ist das
Schutzbefohlenenwesen. Um Geschäfte mit dem
Innern des Landes treiben zu können, bedarf der
europäische Kaufmann der Hafenplätze der Ver-
mittlung von Eingebornen (Araber oder Juden).
Damit diese nicht ebenso wie die übrigen Marok-
Marokko.
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kaner der Willkür und Habgier der Kaids preis-
gegeben sind, treten sie zu dem Staate, dem der
Kaufmann angehört, in ein festes Schutzverhält-
nis, dessen rechtliche Grundlagen durch die Madri-
der Konferenz 1880 geregelt wurden. Von den
zwei Arten der Schutzbefohlenen genießen die
Semsare, die als Makler und Einkäufer, Dol-
metscher usw. dienen, den vollen Schutz der frem-
den Regierung (sie sind der Polizeigewalt des
Kaids und der willkürlichen Besteuerung, nicht
aber der geistlichen Gerichtsbarkeit des Kadi ent-
zogen), während die Mahalaten einen nicht so
weit gehenden Schutz genießen (die marokkanischen
Behörden pflegen die auf einen Mahalaten be-
züglichen Verfügungen vorher dem betreffenden
Konsul vorzulegen).
Über die Finanzen des Landes sind keine
zuverlässigen Angaben vorhanden; man schätzt die
Zolleinnahmen der Häfen auf etwa 8 Mill. M;
das Budget des Sultans beträgt an 5,5 Mill. M.
Die Einnahmen fließen, außer aus Zöllen, die
größtenteils für den Schuldendienst der Anleihen
verwendet werden, hauptsächlich aus Steuern;
diese sind teils religiöser Art („Aschur"), die nach
koranischem Gesetz erhoben werden und nur auf
mohammedanische Untertanen Anwendung findet,
teils administrative teils von den einzelnen Stäm-
men zu erhebende Steuern („Hakka“). Die vom
Sultan 1903 versuchte Steuerreform (Ersetzung
der Personalsteuer durch eine feste Steuer auf be-
wirtschaftetes Land und Vieh, den sog. „Tertib“),
ist bisher nur in geringem Umfang zur Durch-
führung gekommen. Durch die Algeciraskonferenz
wurde der Tertib auch auf die Angehörigen der
fremden Mächte ausgedehnt (nach ordnungs-
mäßiger Durchführung im Beled el-Machsen).
Die Konferenz erklärte sich auch damit einverstan-
den, daß eine Abgabe auf städtische Gebäude ohne
Unterschied der Nationalität der Eigentümer durch-
geführt werde, deren Einnahmen zum Teil für die
Bedürfnisse des städtischen Straßenbaues und Ge-
sundheitswesens durch den internationalen Ge-
sundheitsrat verwendet werden soll; ebenso bil-
ligte sie die Einführung verschiedener Abgaben
(Stempelsteuern auf Verträge, Besitzveränderungs-
abgaben auf Grundstücksverkäufe, Paßsteuern,
Kai= und Leuchtturmabgaben), wofür sie die Her-
absetzung mehrerer Ausfuhrzölle verlangte. Die
Schulden belaufen sich auf etwa 70 Mill. Franken
(französische Anleihen); über eine neue französische
Anleihe schweben zurzeit noch die Verhandlungen.
Ein stehendes Heer nach europäischen Begriffen
ist nicht vorhanden, nur einige im Kriegsfall zu
mobilisierende Milizformationen. Als einiger-
maßen regulär können angesehen werden die As-
kari (3000) als Infanterie, die schwarze Garde
(2000/3000) als Kavallerie, die Machazniah als
berittene Gendarmerie (8000/10 000). Die Ar-
tillerie ist ungefähr 600 Mann stark und nicht
formiert. An den größeren Küstenorten sind
1902 einzelne Abteilungen regulär uniformierter