Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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auswärtige Angelegenheiten, Justiz, Krieg und 
Finanzen; für auswärtige Angelegenheiten resi- 
diert ständig ein Stellvertreter des Wesirs in 
Tanger. Die gesamte Zentralverwaltung wird ge- 
wöhnlich Machsen genannt. 
Zu Verwaltungszwecken ist das Land in eine 
wechselnde Anzahl von Provinzen, besser Land- 
schaften (Amalate) eingeteilt, die von Amilen oder 
Kaids (in Fes, Marrakesch, Meknes und Rabat 
Pascha genannt) verwaltet werden. Hauptauf- 
gabe der Kaids, die fast unumschränkt herrschen, 
ist Eintreibung der Steuern und Ausführung der 
Gerichtsurteile; die meisten sind gewalttätig und 
suchen aus der Bevölkerung möglichst viel heraus- 
zupressen. Ihre Ernennung steht im Belieben des 
Sultans, der aber meist einflußreiche Angehörige 
des Stammes oder den Meistbietenden ernennt; 
vielfach ist er auch gezwungen, schon vorhandene 
Stammeshäuptlinge als Kaids anzuerkennen. In 
den nach Stämmen geteilten Gebieten hat jede 
Vereinigung von Dörfern ihren Scheich. dessen 
Gewalt durch die Dschemma (Versammlung der 
erwachsenen Männer) vielfach eingeengt ist, jedes 
Dorf (Duar) seinen Mul-al-Duar. In die innere 
Verwaltung der Stämme greift der Sultan nicht 
ein. Die maurische Bevölkerung in den Städten 
hat eine primitive Städteordnung mit Kaids (der 
hier auch als Richter bei den Streitigkeiten zwischen 
Europäern und Moslim zu entscheiden hat), Moh- 
tassebs (eine Art Vorsteher der Kaufmannschaft, 
mit Aufsichtsrecht über Waren, Maße, Gewichte 
und die Korporationen) und Umanas (Steuer- 
erhebern). Die Ausländer unterstehen ihren 
Konfuln. 
Die Rechtspflege, ein Teil des Kirchen- 
wesens, ist verwickelt und langwierig. Einzig an- 
erkanntes Gesetzbuch ist der Koran. Der oberste 
Richter, der vom Sultan ernannte Kadi el- 
Dschemma von Fes, ernannte seinerseits früher die 
Kadis der Provinzen; seit längerer Zeit hat die 
Regierung auch die Einsetzung dieser an sich ge- 
zogen. Die Strafen sind zum Teil von empören- 
der Grausamkeit. Wegen der Bestechlichkeit der 
Kadis lassen die Eingebornen ihre Streitfälle 
unter sich häufig durch Schiedsrichter (meist mo- 
hammedanische „Heilige") schlichten. Bei Strei- 
tigkeiten Eingeborner mit Europäern ist, falls der 
Eingeborne Beklagter ist, das einheimische Gericht 
zuständig; ist dieser ein „Schutzbefohlener“, oder 
der Europäer der Beklagte, so entscheiden die Kon- 
sulargerichte, ebenso bei Streitigkeiten zwischen 
Europäern. — Die diplomatischen Vertreter der 
fremden Mächte residieren in Tanger. Deutsch- 
land unterhält in Marokko 1 Gesandtschaft, 
3 Konsulate, 5 Bizekonsulate, und 1 Konsular- 
agentur. — Eine eigenartige Einrichtung ist das 
Schutzbefohlenenwesen. Um Geschäfte mit dem 
Innern des Landes treiben zu können, bedarf der 
europäische Kaufmann der Hafenplätze der Ver- 
mittlung von Eingebornen (Araber oder Juden). 
Damit diese nicht ebenso wie die übrigen Marok- 
  
Marokko. 
  
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kaner der Willkür und Habgier der Kaids preis- 
gegeben sind, treten sie zu dem Staate, dem der 
Kaufmann angehört, in ein festes Schutzverhält- 
nis, dessen rechtliche Grundlagen durch die Madri- 
der Konferenz 1880 geregelt wurden. Von den 
zwei Arten der Schutzbefohlenen genießen die 
Semsare, die als Makler und Einkäufer, Dol- 
metscher usw. dienen, den vollen Schutz der frem- 
den Regierung (sie sind der Polizeigewalt des 
Kaids und der willkürlichen Besteuerung, nicht 
aber der geistlichen Gerichtsbarkeit des Kadi ent- 
zogen), während die Mahalaten einen nicht so 
weit gehenden Schutz genießen (die marokkanischen 
Behörden pflegen die auf einen Mahalaten be- 
züglichen Verfügungen vorher dem betreffenden 
Konsul vorzulegen). 
Über die Finanzen des Landes sind keine 
zuverlässigen Angaben vorhanden; man schätzt die 
Zolleinnahmen der Häfen auf etwa 8 Mill. M; 
das Budget des Sultans beträgt an 5,5 Mill. M. 
Die Einnahmen fließen, außer aus Zöllen, die 
größtenteils für den Schuldendienst der Anleihen 
verwendet werden, hauptsächlich aus Steuern; 
diese sind teils religiöser Art („Aschur"), die nach 
koranischem Gesetz erhoben werden und nur auf 
mohammedanische Untertanen Anwendung findet, 
teils administrative teils von den einzelnen Stäm- 
men zu erhebende Steuern („Hakka“). Die vom 
Sultan 1903 versuchte Steuerreform (Ersetzung 
der Personalsteuer durch eine feste Steuer auf be- 
wirtschaftetes Land und Vieh, den sog. „Tertib“), 
ist bisher nur in geringem Umfang zur Durch- 
führung gekommen. Durch die Algeciraskonferenz 
wurde der Tertib auch auf die Angehörigen der 
fremden Mächte ausgedehnt (nach ordnungs- 
mäßiger Durchführung im Beled el-Machsen). 
Die Konferenz erklärte sich auch damit einverstan- 
den, daß eine Abgabe auf städtische Gebäude ohne 
Unterschied der Nationalität der Eigentümer durch- 
geführt werde, deren Einnahmen zum Teil für die 
Bedürfnisse des städtischen Straßenbaues und Ge- 
sundheitswesens durch den internationalen Ge- 
sundheitsrat verwendet werden soll; ebenso bil- 
ligte sie die Einführung verschiedener Abgaben 
(Stempelsteuern auf Verträge, Besitzveränderungs- 
abgaben auf Grundstücksverkäufe, Paßsteuern, 
Kai= und Leuchtturmabgaben), wofür sie die Her- 
absetzung mehrerer Ausfuhrzölle verlangte. Die 
Schulden belaufen sich auf etwa 70 Mill. Franken 
(französische Anleihen); über eine neue französische 
Anleihe schweben zurzeit noch die Verhandlungen. 
Ein stehendes Heer nach europäischen Begriffen 
ist nicht vorhanden, nur einige im Kriegsfall zu 
mobilisierende Milizformationen. Als einiger- 
maßen regulär können angesehen werden die As- 
kari (3000) als Infanterie, die schwarze Garde 
(2000/3000) als Kavallerie, die Machazniah als 
berittene Gendarmerie (8000/10 000). Die Ar- 
tillerie ist ungefähr 600 Mann stark und nicht 
formiert. An den größeren Küstenorten sind 
1902 einzelne Abteilungen regulär uniformierter
	        
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