Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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30. Juni 1901 hatte bald auch in andern Stän- 
den Wünsche erregt, für ihre Standesstreitigkeiten 
ähnliche Gerichte zu erhalten. Sie kamen auch im 
Reichstag zum Ausdruck und fanden dort steigen- 
des Entgegenkommen, namentlich was die Errich- 
tung von Kaufmannsgerichten anlangt. Das 
führte zu einer Vorlage der verbündeten Regie- 
rungen vom 8. Jan. 1904, aus welcher das 
Reichsgesetz betr. Kaufmannsgerichte vom 6. Juli 
1904 entstand. Dieses knüpft an die Ausgestal- 
tung der Gewerbegerichte an, entwickelt deren 
Grundsätze aber nach verschiedenen Richtungen hin 
weiter. Einige Besonderheiten sind darauf zurück- 
zuführen, daß die kaufmännischen Gehilfen nir- 
gendwo in solcher Zahl vertreten sind wie die ge- 
werblichen Arbeiter. - 
Kaufmannsgerichte sind obligatorisch für Ge- 
meinden mit mehr als 20 000 Einwohnern. Im 
übrigen können sie durch die Gemeinden im Wege 
des Ortsstatuts errichtet werden. Auch kann die 
Landes-Zentralbehördeauf Antragbeteiligter Kreise 
sie anordnen, wenn die Gemeinden versagen. Sie 
sind zuständig, und zwar ausschließlich, zur Ent- 
scheidung von Streitigkeiten aus dem Dienst= oder 
Lehrverhältnis zwischen Kaufleuten einerseits und 
ihren Handlungsgehilfen oder Handlungslehrlingen 
anderseits, soweit der Jahresarbeitsverdienst der 
Gehilfen 5000 M nicht übersteigt. Der Vor- 
sitzende soll die Fähigkeit zum Richteramt oder zum 
höheren Verwaltungsdienst haben. Sofern der 
Vorsitzende des am Ort befindlichen Gewerbe- 
gerichts diese Eigenschaft hat, soll in der Regel 
dieser auch zum Vorsitzenden des Kaufmanns- 
gerichts bestellt werden. Überall wo Gewerbe- 
gerichte und Kaufmannsgerichte am selben Ort 
sind, sollen ihnen Gerichtschreiberei, Bureaudienst, 
Sitzungs= und Bureauräumlichkeiten gemeinsam 
sein. Die Beisitzer, deren Zahl mindestens vier 
betragen soll, müssen je zur Hälfte aus den Kauf- 
leuten und den Handlungsgehilfen genommen wer- 
den. Die Wahl der Beisitzer ist unmittelbar und 
geheim und findet obligatorisch nach den Grund- 
sätzen der Verhältniswahl statt. Frauen haben 
weder aktives noch passives Wahlrecht. Das Ver- 
fahren ist dasselbe wie im Gewerbegericht, doch 
ist Berufung gegen die Urteile erst zugelassen, 
wenn der Wert des Streitgegenstandes 300 M 
übersteigt. Die Kaufmannsgerichte können in 
ähnlicher Weise wie die Gewerbegerichte als Eini- 
gungsämter angerufen werden, Gutachten abgeben 
und Anträge in Bezug auf das kaufmännische 
Dienst= oder Lehrverhältnis stellen. 
Die Einrichtung der Kaufmannsgerichte ist in- 
zwischen glatt vor sich gegangen. Im Jahre 1906 
bestanden deren im Deutschen Reiche bereits 248 
(1905:-2227). 20 287 (1905:14 285) Klagen waren 
anhängig, unter diesen 2156 (1905: 785) von 
Kaufleuten gegen Gehilfen oder Lehrlinge, 18 131 
(1905:13 500) von Gehilfen oder Lehrlingen gegen 
Prinzipale. Der Wert des Streitgegenstandes be- 
trug in 1501 (1905: 1271) Fällen bis zu 20 M, 
in 2765 (1905: 2084) bis zu 50 M und in 4129 
  
Ketteler. 
  
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(1905: 2836) Fällen bis zu 100 M; 10 670 (1905: 
7237) hatten einen Wert von über 300 M. Von 
den rechtshängigen Sachen wurden erledigt durch 
Vergleich 8453 (1905: 6290), durch Verzicht 80 
(1905: 57), durch Anerkenntnis 151 (1905: 111), 
durch Zurücknahme der Klage 3111 (1905: 1905), 
durch Versäumnisurteil 1275 (1905: 935) und 
durch andere Endurteile 3910 (1905: 2644). Von 
den letzteren beanspruchten bis zum Abschluß des 
Verfahrens 708 (1905;: 546) weniger als eine 
Woche, 1044 (1905: 708) bis zu zwei Wochen, 
964 (1905: 705) bis zu einem Monat, 828 (1905: 
560) bis zu drei Monaten und 366 (1905: 125) 
mehr als drei Monate. Auf sonstige Weise wurden 
1745 (1905: 1177) Streitigkeiten erledigt. Un- 
erledigt blieben 1562 (1905: 1166). Die Zahl der 
Berufungen gegen die Urteile der Kaufmanns- 
gerichte stieg von 246 im Jahre 1905 auf 430 im 
Jahre 1906. Als Einigungsämter waren dieselben 
tätig im Jahre 1906 dreimal (1905 keinmal) 
auf Anrufung von beiden Seiten, je einmal nur 
von seiten der Angestellten und keinmal in den 
beiden Jahren nur seitens der Prinzipale. In dreie 
Fällen kam eine Vereinbarung zustande. Ein 
Schiedsspruch wurde weder 1905 noch 1906 ge- 
fällt. Im Jahre 1906 blieb kein (1905: 1) Streit- 
fall ergebnislos. Gutachten wurden 59 (1905: 34) 
abgegeben und Anträge 63 (1905: 14) gestellt. 
Die Kaufmannsgerichte haben sich mit den Ge- 
werbegerichten zu einem gemeinsamen Verbande 
zusammengeschlossen. Wenn ihre Entwicklung auch 
einigermaßen erschwert ist durch die geringere 
Zahl der Handlungsgehilfen — nicht einmal in 
allen Städten über 100 000 Einwohner erreicht 
ihre Zahl 2000 —, so daß die Beschäftigung der 
einzelnen Kaufmannsgerichte erheblich geringer ist 
wie bei den Gewerbegerichten, so sind ihre Erfolge 
doch ähnlich gute wie bei den Gewerbegerichten. 
Literatur. Silberschmidt, Die deutsche Son- 
dergerichtsbarkeit in Handels= u. Gewerbesachen, 
insbesondere seit der französ. Revolution (1904); 
Pfordten, Anleitung für die Beisitzer der K. (1905); 
Schön, Die K. (1905); Stiehler, Das K. (1905); 
Art. „K."“ in v. Bitters Handwörterb. der preuß. 
Verwaltung 1 (1906); Neukamp, Art. „K.“ in 
Elsters Wörterb. der Volkswirtschaft II (21907). 
— Zeitschriften: Das Gewerbe= u. Kaufmanns- 
gericht (seit 1896 bzw. 1904); Reichsarbeitsblatt 
(seit 1903); Jahrb. des K. Berlin (1908). 
(Karl Bachem.) 
Ketteler, Wilhelm Emanuel Freiherr v., 
Bischof von Mainz (geb. 25. Dez. 1811, gest. 
13. Juli 1877), stammte aus einer altberühm- 
ten westfälischen Adelsfamilie, deren Hauptlinie 
ihren Sitz auf dem Schlosse Harkotten hat. Mit 
fünf Brüdern und drei Schwestern erhielt er 
den ersten Unterricht im häuslichen Kreise, dann 
1824/28 in dem Jesuitenkollegium zu Brig. 
Nachdem er 1829 das Maturitätsexamen zu 
Münster gemacht hatte, studierte er die Rechts- 
wissenschaft zu Göttingen, Heidelberg, Berlin und 
München, leistete den Freiwilligendienst bei den 
Ulanen zu Münster und arbeitete seit 1833 als 
Auskultator am Land= und Stadtgericht, 1835/37 
als Referendar bei der Regierung daselbst. Mäch-
	        
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