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der Arbeitskraft nur einen halben Tag kostet, ob-
gleich die Arbeitskraft einen ganzen Tag wirken,
arbeiten kann, daß daher ihr Wert, den ihr Ge-
brauch während eines Tages schafft, doppelt so
groß ist als ihr eigner Tageswert, ist ein beson-
deres Glück für den Käufer, aber durchaus kein
Unrecht gegen den Verkäufer... Unser Kapitalist
hat den Kasus, der ihn lachen macht, vorher-
gesehen. Der Arbeiter findet daher in der Werk-
stätte die nötigen Produktionsmittel nicht nur für
einen sechs stündigen, sondern für einen zwölf-
stündigen Arbeitsprozeß“ (ebd. 156 f). Der
Unterschied also, der zwischen der Nutzung der
Arbeit und ihren Kosten besteht, macht den Profit
des Kapitalisten aus. Ein Teil des Arbeitstages
wird dem Arbeiter nicht bezahlt, und diese Er-
sparnis kommt dem Unternehmer zu gut. „Diese
zweite Periode des Arbeitsprozesses, die der Ar-
beiter über die Grenzen der notwendigen Arbeit
hinaus schanzt, kostet ihn zwar Arbeit, Veraus-
gabung von Arbeitskraft, bildet aber keinen Wert
für ihn. Sie bildet Mehrwert, der den Kapi-
talisten mit allem Reiz einer Schöpfung aus nichts
anlacht" (ebd. 178). Die Aneignung unbezahlter
Arbeit ist das ganze „Geheimnis der Plus-
macherei“, das zu enthüllen Marx beabsichtigte;
sie ist das Fundamentalprinzip der kapitalistischen
Produktionsweise, die auf der Ausplünderung der
Arbeit beruht. Der Mehrwert ist wesentlich „ohne
Aquivalent angeeigneter Wert oder Materiatur
unbezahlter Arbeit“ (ebd. 533). So kann Marx
behaupten, das Kapital komme „von Kopf bis
Zeh aus allen Poren schmutz= und bluttriefend“
zur Welt (ebd. 726). Die notwendige Voraus-
setzung dieser „Exploitation“ der Arbeit ist, „daß
der Geldbesitzer den freien Arbeiter auf dem
Warenmarkt vorfinde, frei in dem Sinne, daß er
als freie Person über seine Arbeitskraft verfügt“
und anderseits keine eignen Produktionsmittel
besitzt ebd. 131). Dieser Ausbeutungsprozeß ist
ein beständig in immer größerer Dimension sich
erneuernder Kreislauf. „Der Wert wird also pro-
zessierender Wert, prozessierendes Geld und als
solches Kapital. Er kommt aus der Warenzirku-
lation her, geht wieder in sie ein, erhält und ver-
vielfältigt sich in ihr, kehrt vergrößert aus ihr zu-
rück und beginnt denselben Kreislauf stets von
neuem“ (ebd.). — Durch den Fortschritt der Tech-
nik wird nun eine große Anzahl von Arbeitskräften
überflüssig, die Maschinerie gestattet den Ersatz der
teuern Arbeitskraft des erwachsenen männlichen
Arbeiters durch Weiber= und Kinderarbeit. Die
überschüssigen Arbeitskräfte bilden die „industrielle
Reservearmee“, die natürlich den Arbeitslohn auf
das niedrigste Niveau herabdrückt. Der „Akku-
mulation von Kapital“ entspricht die „Akkumu-
lation von Elend“. „Die Akkumulation von
Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich
Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei,
Unwissenheit, Bestialisierung und moralische De-
gradation auf dem Gegenpol, d. h. auf seiten
Marrx.
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der Klasse, die ihr eignes Produkt als Kapital
produziert“ (ebd. 611). Die wilde Konkurrenz
der Kapitalisten hat das periodisch wiederkehrende
Elend der Krisen im Gefolge: „Je ein Kapi-
talist schlägt viele tot“; die Konzentration der
Produktion, die Vergesellschaftung der Arbeit
steigt, anderseits wächst auch das Elend des Pro-
letariats, so daß einmal die Stunde schlägt, wo
die bisherigen „Expropriateurs expropriiert“ und
die Produktionsmittel vergesellschaftet (ebd. 728)
werden (sog. Verelendungs-, Krisen-, Zusammen-
bruchstheorie).
3. Kritik. Um noch eine kurze Kritik des
„Marxismus“, an dessen Richtigkeit in neuerer
Zeit immer mehr Zweifel laut werden, zu geben,
so fällt die materialistische Geschichtsauffassung
mit der Unhaltbarkeit des Materialismus über-
haupt (Näheres bei Cathrein, Sozialismus 770 ff.
Auch die Wert= bzw. Mehrwerttheorie, die, neben-
bei bemerkt, schon vor Marx von englischen Theo-
retikern entwickelt worden war (vgl. A. Menger,
Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag (118911
IV #) beruht auf unhaltbaren Voraussetzungen.
Unrichtig ist vor allem, daß das den auszutauschen-
den Waren Gemeinsame nur die in ihnen ver-
körperte Arbeit sein könne; vielmehr ist dasselbe
in dem von Marx einfach eliminierten Gebrauchs-
wert, in ihrer Nützlichkeit für menschliche Be-
dürfnisbefriedigung zu erblicken. Marx hat sich
hier selbst in einen Widerspruch verwickelt. Er
sagt, innerhalb des Austauschverhällnisses gelte
ein Gebrauchswert soviel als jeder andere, wenn
er nur in gehöriger Proportion vor-
handen sei. Offenbar muß der Gebrauchswert
vorhanden sein, weil eben nur nützliche Dinge
überhaupt Tauschwert besitzen können. Daß die
Nützlichkeit oder der Gebrauchswert einer Ware
nicht allein den Tauschwert konstituiert, son-
dern daß noch andere Bedingungen, wie eine ge-
wisse Seltenheit des Gegenstandes, gegeben sein
müssen, gibt noch kein Recht, den Gebrauchswert
vom Tauschwert vollständig zu trennen und letzteren
ausschließlich auf Arbeit zu reduzieren. So oft
wir nach einem Gute Begehr tragen, überzeugen
wir uns, daß nicht die in demselben vergegen-
ständlichte gesellschaftliche Arbeit, sondern sein
Gebrauchswert, der von ihm erwartete Nutzen es
ist, der ihm in unsern Augen Wert verleiht. Da-
mit ist aber der von Marx an der kapitalistischen
Gesellschaft geübten Kritik die Spitze abgebrochen.
So einleuchtend es erscheinen mußte, daß, wenn
lediglich die Arbeit Tauschwert erzeugen könne,
der Gewinn des Kapitalisten lediglich in der An-
eignung fremder Arbeit beruhen könne, so ist einer
solchen Argumentation mit dem Nachweis der Un-
richtigkeit der Werttheorie der Boden entzogen.
Daß es Produktionszweige gibt, in denen das in
den Erzeugnissen steckende Arbeitsquantum den
Hauptposten der gesamten Produktionskosten bil-
det, daß es weiter Güter gibt, bei welchen der
Wert des Materials im Vergleich zu der form-