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Man tut dem historischen Materialismus mehr
Abbruch, als man ihm nützt, wenn man die ent-
schiedene Betonung der Einflüsse anderer als rein
ökonomischer Natur und die Rücksicht auf andere
ökonomische Faktoren als die Produktionstechnik
und ihre vorausgesehene Entwicklung von vorn-
herein als Eklektizismus vornehm zurückweist. Der
Eklektizismus — das Auswählen aus verschiedenen
Erklärungen und Behandlungsarten der Erschei-
nungen — ist oft nur die natürliche Reaktion gegen
den doktrinären Drang, alles aus einem herzuleiten
und nach einer und derselben Methode zu behandeln.
Sobald solcher Drang überwuchert, wird sich der
eklektische Geist immer wieder mit elementarer Ge-
walt Bahn brechen. Er ist die Rebellion des nüch-
ternen Verstandes gegen die jeder Doktrin inne-
wohnende Neigung, den Gedanken „in spanische
Stiefel einzuschnüren"."
Ahnlich gelangt Tugan-Baranowsky neben einer
recht wesentlichen Sinnesumdeutung des Marrschen
„Wirtschaftsbegriffs“ (a. a. O. 78 ff) zu dem weite-
ren Zugeständnis, daß „die höheren Tätigkeits-
arten“, welche in der Menschheitsgeschichte immer
stärker hervortreten, „ihre selbständige, von der
Wirtschaft unabhängige Bedeutung haben, und es
wäre recht verkehrt, sie als ein passives Produkt oder
sogar einen bloßen Reflex der Wirtschaft zu be-
trachten. Da aber der geschichtliche Fortschritt ge-
rade in der Vergeistigung des Menschen besteht, im
Versetzen des Schwerpunktes des Menschenlebens
von den niederen physiologischen Bedürfnissen des
Lebensunterhalts zu den höheren Geistesbedürf-
nissen, so muß, wie es scheint, auch die soziale Be-
deutung des wirtschaftlichen Momentes mit dem
Lauf der Geschichte abnehmen" (a. a. O. 89). Und
selbst so strenggläubige Marxisten wie Mehring und
Kautsky haben nach Biermanns Zitatennachweis
(Die Weltanschauung des Marxismus 11908!
23 ff) nicht immer vermeiden können, „nachträg-
lich noch die früher so geschmähten „ideologischen“
Faktoren durch ein Hinterpförtchen wieder herein-
schlüpfen zu lassen“.
Dieses immanente Scheitern des historischen
Materialismus an seinen eignen Voraussetzungen
und den entgegenstehenden Tatsachen ist unaus-
bleiblich auf Grund der prinzipiell verfehlten Me-
thoden seiner ganzen Theorienbauweise. Die
Marxsche naive Auffassung, wonach alle unsere
Matrikularbeiträge — Mecklenburg.
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lung, nämlich „die Förderung der gesellschaftlichen
Produktion“, als gegeben voraussetzt. Alle Ver-
suche, diese grundsätzlichen Mängel des historischen
Materialismus durch ein revisionistisches Zurück-
gehen auf Kant auszugleichen, wie dies bereits
Jaurès 1891 in seiner lateinischen Dissertation
proklamiert (ugl. Vorländer, Kant und der Sozia-
lismus, in Kantstudien IVI1900390f#), und dann
namentlich Bernstein (a. a. O.), Woltmann (Der.
historische Materialismus (19001), Tugan-Bara-
nowsky (a. a. O.) und Staudinger (Wirtschaft-
liche Grundlagen der Moral 11907)) verfochten
haben, ist aussichtslos; denn sie alle geben, wenn
auch nicht immer bewußtermaßen den metaphy-
sischen Materialismus, so doch namentlich die
noch ausschlaggebendere negativ-bestruktive Ten-
denz marxistischer Geschichtsphilosophie, ihren
Antimoralismus und grundsätzlichen Atheismus
preis.
Versagt dermaßen der historische Materialis-
mus als wissenschaftliche Theorie, wobei sein
Verdienst um die Aufrollung wirtschaftsgeschicht-
licher Probleme nicht mißkannt werden darf,
so wird er schließlich mit der wachsenden Auf-
klärung über die Anforderungen einer wirklich
wissenschaftlichen Denkweise auch die praktische
Werbekraft in immer erheblicherem Maße ver-
lieren. Mit der sich immer mehr vertiefenden ge-
schichtlichen Erkenntnis, daß ohne die Triebkräfte
des „ideologischen Uberbaues“, insbesondere ohne
hohe ethische und religiöse Ideale die Menschheit
noch niemals einen wesentlichen sozialen Fortschritt
errungen und behauptet hat (val. hierüber z. B.
Kidd, Soziale Evolution (deutsch 1895|, und
Foerster, Christentum und Klassenkampf [1908)P,
wird dann auch für die Zukunft alle Hoffnung auf
soziale Gerechtigkeit sich nicht mehr auf Gedanken-
gänge eines ethischen und metaphysischen Materia-
lismus, sondern auf dessen reinsten und erhabensten
Gegensatz, die christliche Wahrheit, gründen.
Literatur. Außer den bereits im
Text benannten Werken u. Aufsätzen
u. einem großen Teil der bei den Artikeln Sozia-
lismus, Marx, Gesellschaft, Mensch aufgeführten
„Literatur vgl. ferner Th. G. Masaryk, Die philos.
-mu. sozial. Grundlagen des Marxismus (1899);
R. Stammler, Art. „Materialistische Geschichts-
Ideen nur auf Sinneserfahrung beruhende treu- auffassung", im Handwörterbuch der Staatswissen-
kopierende „Bilder“ der Dinge wären, ist von schaften V (21901) 725/737; A. Koppel, Für u.
vornherein erkenntnistheoretisch unhaltbar (ugl. wider Karl Marx (1905); V. Cathrein, M. u.
Erdmann a. a. O. 7 ff); nicht minder methodisch Sozialdemokratie, in Stimmen aus Maria-Laach
verfehlt ist von vornherein der Versuch, auf der 1906, 31050; Tönnies, Ethik u. Sozialismus, im
Grundlage rein naturwissenschaftlicher Begriffs= Archiv für Sozialwissenschaften XXV (1907) 573
· —- bis 613 u. XXVI (1908) 56/98; P. Albert, So-
bildung — selbst wenn diese Marx besser vertraut #are -- - - -
. . .. zialismus u. Geschichtswissenschaft, in Soziale
wäre — die Geschichte verstehen zu wollen Revue VIII (1908) 143/186; Tugan-Baranowssky,
(ogl. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaft= Der moderne Sozialismus in geschichtlicher Be-
lichen Begriffsbildung [1896.), und schließlich ge= deutung (1908); E. Hammacher, Das philos.-
lingt, wie namentlich Stammler (a. a. O. Buch IV) ökonom. System des Marximus (1909).
nachweist, dem historischen Materialismus die ver-
meintliche Ausschaltung teleologischer Betrach-
tungsweise so wenig, daß er stets einen ganz be-
[Ettlinger.)
Matrikularbeiträges. Reichsfinanzwesen.
Mecklenburg. 1. Geschichte. Mecklen-
stimmten Endzweck aller geschichtlichen Entwick= burg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz, Groß-