Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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Man tut dem historischen Materialismus mehr 
Abbruch, als man ihm nützt, wenn man die ent- 
schiedene Betonung der Einflüsse anderer als rein 
ökonomischer Natur und die Rücksicht auf andere 
ökonomische Faktoren als die Produktionstechnik 
und ihre vorausgesehene Entwicklung von vorn- 
herein als Eklektizismus vornehm zurückweist. Der 
Eklektizismus — das Auswählen aus verschiedenen 
Erklärungen und Behandlungsarten der Erschei- 
nungen — ist oft nur die natürliche Reaktion gegen 
den doktrinären Drang, alles aus einem herzuleiten 
und nach einer und derselben Methode zu behandeln. 
Sobald solcher Drang überwuchert, wird sich der 
eklektische Geist immer wieder mit elementarer Ge- 
walt Bahn brechen. Er ist die Rebellion des nüch- 
ternen Verstandes gegen die jeder Doktrin inne- 
wohnende Neigung, den Gedanken „in spanische 
Stiefel einzuschnüren"." 
Ahnlich gelangt Tugan-Baranowsky neben einer 
recht wesentlichen Sinnesumdeutung des Marrschen 
„Wirtschaftsbegriffs“ (a. a. O. 78 ff) zu dem weite- 
ren Zugeständnis, daß „die höheren Tätigkeits- 
arten“, welche in der Menschheitsgeschichte immer 
stärker hervortreten, „ihre selbständige, von der 
Wirtschaft unabhängige Bedeutung haben, und es 
wäre recht verkehrt, sie als ein passives Produkt oder 
sogar einen bloßen Reflex der Wirtschaft zu be- 
trachten. Da aber der geschichtliche Fortschritt ge- 
rade in der Vergeistigung des Menschen besteht, im 
Versetzen des Schwerpunktes des Menschenlebens 
von den niederen physiologischen Bedürfnissen des 
Lebensunterhalts zu den höheren Geistesbedürf- 
nissen, so muß, wie es scheint, auch die soziale Be- 
deutung des wirtschaftlichen Momentes mit dem 
Lauf der Geschichte abnehmen" (a. a. O. 89). Und 
selbst so strenggläubige Marxisten wie Mehring und 
Kautsky haben nach Biermanns Zitatennachweis 
(Die Weltanschauung des Marxismus 11908! 
23 ff) nicht immer vermeiden können, „nachträg- 
lich noch die früher so geschmähten „ideologischen“ 
Faktoren durch ein Hinterpförtchen wieder herein- 
schlüpfen zu lassen“. 
Dieses immanente Scheitern des historischen 
Materialismus an seinen eignen Voraussetzungen 
und den entgegenstehenden Tatsachen ist unaus- 
bleiblich auf Grund der prinzipiell verfehlten Me- 
thoden seiner ganzen Theorienbauweise. Die 
Marxsche naive Auffassung, wonach alle unsere 
Matrikularbeiträge — Mecklenburg. 
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lung, nämlich „die Förderung der gesellschaftlichen 
Produktion“, als gegeben voraussetzt. Alle Ver- 
suche, diese grundsätzlichen Mängel des historischen 
Materialismus durch ein revisionistisches Zurück- 
gehen auf Kant auszugleichen, wie dies bereits 
Jaurès 1891 in seiner lateinischen Dissertation 
proklamiert (ugl. Vorländer, Kant und der Sozia- 
lismus, in Kantstudien IVI1900390f#), und dann 
namentlich Bernstein (a. a. O.), Woltmann (Der. 
historische Materialismus (19001), Tugan-Bara- 
nowsky (a. a. O.) und Staudinger (Wirtschaft- 
liche Grundlagen der Moral 11907)) verfochten 
haben, ist aussichtslos; denn sie alle geben, wenn 
auch nicht immer bewußtermaßen den metaphy- 
sischen Materialismus, so doch namentlich die 
noch ausschlaggebendere negativ-bestruktive Ten- 
denz marxistischer Geschichtsphilosophie, ihren 
Antimoralismus und grundsätzlichen Atheismus 
preis. 
Versagt dermaßen der historische Materialis- 
mus als wissenschaftliche Theorie, wobei sein 
Verdienst um die Aufrollung wirtschaftsgeschicht- 
licher Probleme nicht mißkannt werden darf, 
so wird er schließlich mit der wachsenden Auf- 
klärung über die Anforderungen einer wirklich 
wissenschaftlichen Denkweise auch die praktische 
Werbekraft in immer erheblicherem Maße ver- 
lieren. Mit der sich immer mehr vertiefenden ge- 
schichtlichen Erkenntnis, daß ohne die Triebkräfte 
des „ideologischen Uberbaues“, insbesondere ohne 
hohe ethische und religiöse Ideale die Menschheit 
noch niemals einen wesentlichen sozialen Fortschritt 
errungen und behauptet hat (val. hierüber z. B. 
Kidd, Soziale Evolution (deutsch 1895|, und 
Foerster, Christentum und Klassenkampf [1908)P, 
wird dann auch für die Zukunft alle Hoffnung auf 
soziale Gerechtigkeit sich nicht mehr auf Gedanken- 
gänge eines ethischen und metaphysischen Materia- 
lismus, sondern auf dessen reinsten und erhabensten 
Gegensatz, die christliche Wahrheit, gründen. 
Literatur. Außer den bereits im 
Text benannten Werken u. Aufsätzen 
u. einem großen Teil der bei den Artikeln Sozia- 
lismus, Marx, Gesellschaft, Mensch aufgeführten 
„Literatur vgl. ferner Th. G. Masaryk, Die philos. 
-mu. sozial. Grundlagen des Marxismus (1899); 
R. Stammler, Art. „Materialistische Geschichts- 
  
Ideen nur auf Sinneserfahrung beruhende treu- auffassung", im Handwörterbuch der Staatswissen- 
kopierende „Bilder“ der Dinge wären, ist von schaften V (21901) 725/737; A. Koppel, Für u. 
vornherein erkenntnistheoretisch unhaltbar (ugl. wider Karl Marx (1905); V. Cathrein, M. u. 
Erdmann a. a. O. 7 ff); nicht minder methodisch Sozialdemokratie, in Stimmen aus Maria-Laach 
verfehlt ist von vornherein der Versuch, auf der 1906, 31050; Tönnies, Ethik u. Sozialismus, im 
Grundlage rein naturwissenschaftlicher Begriffs= Archiv für Sozialwissenschaften XXV (1907) 573 
· —- bis 613 u. XXVI (1908) 56/98; P. Albert, So- 
bildung — selbst wenn diese Marx besser vertraut #are -- - - - 
. . .. zialismus u. Geschichtswissenschaft, in Soziale 
wäre — die Geschichte verstehen zu wollen Revue VIII (1908) 143/186; Tugan-Baranowssky, 
(ogl. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaft= Der moderne Sozialismus in geschichtlicher Be- 
lichen Begriffsbildung [1896.), und schließlich ge= deutung (1908); E. Hammacher, Das philos.- 
lingt, wie namentlich Stammler (a. a. O. Buch IV) ökonom. System des Marximus (1909). 
nachweist, dem historischen Materialismus die ver- 
meintliche Ausschaltung teleologischer Betrach- 
tungsweise so wenig, daß er stets einen ganz be- 
[Ettlinger.) 
Matrikularbeiträges. Reichsfinanzwesen. 
Mecklenburg. 1. Geschichte. Mecklen- 
stimmten Endzweck aller geschichtlichen Entwick= burg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz, Groß-
	        
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