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Verhältnisse volles Verständnis hatte. Frei von
jeder Beengung durch irgend welche politische oder
wissenschaftliche oder kirchliche Schablone, faßte er
die Bewegung der Zeit mit unbefangener Klarheit
auf. Er nahm aus dem Mittelalter das Edle,
Große und Schöne; aber er verwarf auch das ein-
seitig Verknöcherte, Uberlebte der alten Zeit. Er
trat den ungläubigen und irreligiösen Tendenzen
der Gegenwart mit unbeugsamer Schärfe ent-
gegen; aber er anerkannte auch alles Gute in der
Zeit, insbesondere die Verhandlung aller großen
Fragen und Angelegenheiten in der Offentlichkeit
der Presse, der Versammlungen und des parla-
mentarischen Lebens. — So war er denn ein
Mann des Jahrhunderts und zugleich, auf dem
Felsen der Kirche stehend, über das Jahrhundert
erhaben. Als ein solcher Mann wird er stets in
Ehren bleiben. lHaffner.)
Kiautschou s. Deutsches Reich Bd I,
Sp. 1273.
Kinderschutzgesetzgebung. [Motive und
Geschichte; die gesetzlichen Vorschriften in Deutsch-
land: die Fabrikgesetzgebung, das Kinderschutz-
gesetz; Kritik; das Ausland.)
1. Motive und Geschichte. Kinder-
schutzgesetgebung wird hier nur in dem Sinne
von Gesetzgebung bezüglich der erwerbstätigen
Kinder (bis zum 14. Jahre) verstanden. (Be-
züglich der Gesetzgebung zum Schutze gegen
körperliche und sittliche Verwahrlosung s. d. Art.
Fürsorgeerziehung.) Mit der Entfaltung des neu-
zeitlichen Erwerbslebens war überall eine An-
spannung der Kinder verbunden, wie sie früher
nie der Fall war. Die Spezialisierung der Arbeit
in den Fabriken machte die Beschäftigung der
Kinderhände möglich, und allenthalben spannte
Unverstand und unersättliche Habgier zarte Kinder
in großer Zahl (noch 1890 waren in Deutschland
27 485 Kinder in Fabriken beschäftigt) an den
Pflug der Fabrikarbeit. Der Aufschwung des ge-
werblichen Lebens verbunden mit der kärglichen
Lage der unteren Volksklassen schuf neben der Be-
schäftigung der Kinder in Fabriken eine Ausdehnung
der sonstigen gewerblichen Kinderbeschäftigung in
der Hausindustrie, mit Botengängen, wie Brot-
tragen, Zeitungstragen usw., die durch die deutsche
amtliche Enquete von 1898 festgestellt, alle ge-
hegten Befürchtungen übertraf. Nicht weniger als
544 283 Kinder waren gewerblich tätig, wobei
die in der Landwirtschaft und als Gesinde be-
schäftigten Kinder nicht mitgezählt sind, deren
Zahl jedenfalls um ein bedeutendes größer ist.
Zugleich wurde festgestellt, daß die Kinder Scha-
den leiden an ihrer Gesundheit infolge zu langer,
bis in die tiefe Nacht hinein dauernder, früh mor-
gens beginnender oder zu schwerer Arbeit, an ihrer
geistigen Entwicklung infolge des Mangels an
Zeit für die häuslichen Schulaufgaben und Un-
fähigkeit, dem Schulunterricht zu folgen, und ins-
besondere auch in sittlicher Beziehung (Krgeljungen,
Verkauf von Blumen und Streichhölzchen zur
Kiautschou — Kinderschutzgesetzgebung.
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Nachtzeit, Bedienung in Wirtschaften, Mitwirkung
bei Tanzmusiken und Schaustellungen usw.). Da-
bei ist der Verdienst der Kleinen meist ein äußerst
geringfügiger. Es lag im Interesse der Kinder
und der Gesamtheit, daß dieser Ausbeutung der
Kinder ein Riegel durch die Staatsgewalt vor-
geschoben wurde.
Der Schutz der Kinder gegen die Gefahren
der Fabrikarbeit reicht in Deutschland zurück
bis zum Jahre 1839, in welchem ein preußisches
Regulativ vom 9. März einige freilich völlig un-
genügende Vorschriften zum Schutz der Kinder
brachte. Es bedurfte der Arbeit von mehr als
50 Jahren, bis die Kinder den heute geltenden
und genügenden Schutz gegen die Gefahren der
Fabrikarbeit fanden (Novelle zur Gew. O. vom
1. Juni 1891). An einen behördlichen Schutz
der übrigen gewerblich tätigen Kinder dachte man
zwar auch schon ziemlich früh, aber nur auf dem
Wege der für kleine Bezirke geltenden Verord-
nungen (Bremen 1860, Hamburg 1869); staat-
licherseits griff man erst im 20. Jahrh. zu, nach-
dem namentlich die Lehrerschaft auf die dunkeln
Schattenseiten der Erwerbstätigkeit der Kinder hin-
gewiesen und gesetzgeberische Maßnahmen dagegen
verlangt hatte (Kinderschutzgesetz vom 80. März
1903). Die landwirtschaftlich tätigen und die im
Gesindedienst beschäftigten Kinder entbehren leider
bis heute jeden Schutzes.
2. Die gesetzlichen Vorschriften in
Deutschland. Wie erwähnt, muß man die
Beschäftigung von Kindern in Fabriken und son-
stigen gewerblichen Betrieben unterscheiden. Denn
für beide Arten von Betrieben bestehen ganz ver-
schiedenartige Schutzvorschriften. Der Schutz der
in Fabriken beschäftigten Kinder ist gemeinsam
mit dem allgemeinen Arbeiterschutz in der Ge-
werbeordnung festgelegt, während die Schutzvor-
schriften bezüglich der sonstigen gewerblichen Be-
triebe durch ein besonderes Gesetz, das speziell
Kinderschutzgesetz genannt wird, gegeben sind (Ge-
setz vom 30. März 1903).
a) Die für Fabriken (von 1910 ab für ge-
werbliche Betriebe mit mindestens 10 Arbeitern)
geltenden Kinderschutzvorschriften haben Gültig-
keit nicht nur für Fabriken im engeren Sinne,
sondern für eine Reihe anderer Betriebe, welche
durch die Gewerbeordnung ausdrücklich hinsicht-
lich des Arbeiterschutzes den Fabriken gleichgestellt
sind, nämlich 1) Hüttenwerke, Zimmerplätze, an-
dere Bauhöfe, Werften, Ziegeleien, über Tag
betriebene Brüche und Gruben, welche nicht bloß
vorübergehend oder in geringem Umfang betrieben
werden, Bergwerke, Salinen, Aufbereitungs-
anstalten und unterirdisch betriebene Brüche und
Gruben; 2) Motorwerkstätten, d. h. Werkstätten,
in denen durch elementare Kraft bewegte Betriebs-
werke nicht bloß vorübergehend zur Verwendung
kommen; 3) andere Werkstätten bestimmter Bran-
chen, nämlich die der Kleider= und Wäschekonfek-
tion, sofern in ihnen die Anfertigung oder Bear-