Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

1111 
Band eines Heeres bilden, unversiegliche Quellen 
rühmlicher Taten sind. Ihnen gesellt sich die Pflege 
eines Ehrgefühls bei, welches vor Gemeinem be- 
hüten und zu edeln Taten anspornen soll. Allein 
diese Tugenden entfalten sich in reinen, unver- 
sehrten Zügen nur auf der Grundlage der Religion. 
Auf diese aber nimmt die militärische Erziehung 
wenig Rücksicht. Sie hat nicht den ganzen Men- 
schen, sondern nur sein Außeres zum Gegenstande, 
kümmert sich, wenn dieses den Anforderungen ent- 
spricht, nicht um die Ubereinstimmung mit dem 
Innern, verzichtet auf dessen Veredlung und ent- 
sprechende Vervollkommnung, wenn nur Proper- 
tät, strammes Benehmen, Tüchtigkeit in Führung 
der Waffen, pünktlicher Gehorsam erzielt wird. 
Der innere Wille mag dann eine andere Richtung 
haben, wenn diese nur nicht nach außen hervor- 
tritt. Infolgedessen ist der militärische Gehorsam 
oft nur ein blinder, der nicht aus der innern 
Überzeugung von der Berechtigung des Auftrages 
entspringt, sondern aus Furcht vor strengen 
Strafen geleistet wird. Der widerstrebende Wille 
verwandelt sich leicht in stillen Trotz und gärende 
Unzufriedenheit, und statt einer Schule des Ge- 
horsams wird dann die Kaserne eine solche der 
Unbotmäßigkeit und Widersetzlichkeit, welche sich 
später um so kräftiger äußern, je länger und je 
schroffer sie niedergehalten worden sind. Ein solcher 
unbedingter Gehorsam, der in manchen Fällen 
jeden freien Willen zu unterdrücken sucht, nährt 
die traurige Menschenfurcht, wie die zahlreichen 
Militärgerichtsverhandlungen beweisen, nach wel- 
chen Soldaten nur aus Furcht sich die unwürdigste 
Behandlung bieten ließen, ohne Klage zu erheben. 
Er führt zum Laster, wenn der herrschende Geist 
in der Kaserne ein schlechter ist, was meist als 
Folge eines Krieges eintritt; denn der Krieg er- 
zeugt und nährt Roheit, Gefühllosigkeit und ein 
freies Leben, das gegen alle Schranken der Re- 
ligion und Sitte verstößt. Diese Laster ziehen mit 
den heimkehrenden Kriegern in die Kaserne ein. 
Tritt dann die bedauerliche Menschenfurcht hinzu, 
so werden die neuen Soldaten leicht von dem 
Geiste des Unglaubens, der Religionsspötterei 
und der Sittenlosigkeit angesteckt. Die Furcht 
führt nur zu oft zur Teilnahme an Gotteslästerung, 
zu entnervender Unzucht und Selbstmord. Diese 
schädlichen Wirkungen des Militarismus reichen 
über Kaserne und Garnisonstädte hinaus auf das 
Land. Der heimkehrende Reservist setzt nicht selten 
das gewohnte Leben der Stadt im Dorfe fort. 
Der harten landwirtschaftlichen Arbeit und des 
sittigenden christlichen Familienlebens ist er ent- 
wöhnt. Seine liebste Heimstätte wird das Wirts- 
haus, wo er die Gesellschaft ausgedienter Kame- 
raden findet und halbwüchsige Jungen um sich 
sammelt, vor ihnen großtut und sie mit seinem 
Wesen ansteckt. Diese eifern solchen Vorbildern 
kräftig nach, und die Wirte finden dabei ihre 
Rechnung. Tanzmusiken und andere lärmende 
Militarismus. 
  
1112 
meierei nehmen überhand, und Genußsucht und 
Arbeitsscheu breiten sich aus. 
2. Kaum läßt sich ein größeres Opfer denken, 
als daß Eltern den Sohn, den Gehilfen bei der 
Arbeit und Miternährer einer oft zahlreichen 
Familie, auf Jahre dem Staate abtreten, oder 
daß Weib und Kinder den Ernährer fortziehen 
sehen in den blutigen Krieg, um ihn vielleicht für 
immer zu verlieren. Dieses Opfer trifft nun we- 
niger die Größeren und Reicheren als die Kleinen 
und Mittleren, am meisten aber den Landmann 
und Handwerker. 
a) Die Ackerbau treibende Bevölkerung des Lan- 
des wird in erheblich größerem Maße zur Aus- 
hebung herangezogen als die Gewerbe treibende der 
Städte. Das Ausmusterungsgeschäft im Deutschen 
Reiche für 1899 ergab für das 1. Armeekorps in 
Ostpreußen über 6% der Stellungspflichtigen 
als dauernd Untaugliche ausgemustert, 30 % als 
bedingt Taugliche und ÜUberzählige nach dem 
dritten Konkurrenzjahre usw. dem Landsturm ersten 
Aufgebots oder der Ersatzreserve bzw. der Marine- 
Ersatzreserve überwiesen, 52 % ausgehoben (12% 
waren Freiwillige). Es stellen sich also die Ver- 
hältniszahlen dieser drei Kategorien für Ost- 
preußen: 6, 30, 52 % ; für das 2. Armeekorps 
in Pommern: 7, 31, 50%. Im Gegensatze dazu 
stehen: das 3. Armeekorps in Brandenburg mit 
9, 41, 35%, wo das ungünstige Ergebnis wohl 
durch Berlin herbeigeführt wird; das 12. und 
19. Armeekorps im Königreich Sachsen mit 7, 46, 
42 % . Auffallend ist die größere Ausmusterung 
beim 13. Armeekorps in Württemberg mit 12, 
35, 49%, obgleich das Land Landwirtschaft und 
Industrie glücklich vereinigt, diese in nicht sehr 
großen Städten und auf dem Lande betreibt. 
Bayern zeigt wieder andere Verhältnisse; es wur- 
den etwa 8% ausgemustert, 40 % überwiesen, 
47,2% ausgehoben. Für das ganze Deutsche 
Reich stellt sich das Verhältnis auf 8, 40, 43%. 
Begleitende Umstände machen den Militaris- 
mus dem Landmann noch drückender. Drei bzw. 
zwei Jahre bleiben die stärksten jungen Männer 
in der Stadt, in der Kaserne. Dort entwöhnen 
sie sich der schweren Feldarbeit und gewöhnen sich 
in den dienstfreien Stunden und Tagen städtische 
Bedürfnisse, städtische Sitte oder Unsitte an, ver- 
lieren die ländliche Schlichtheit und Einfalt und 
tauschen dafür städtische Pfiffigkeit, ja Verdorben- 
heit ein. Kehren sie in die Heimat zurück, so 
wissen sich viele aus ihnen in die alten Verhält- 
nisse nicht mehr zu schicken, werden unzufrieden 
mit ihrer Lage und verbreiten diese Unzufrieden- 
heit und die in der Stadt angenommenen Un- 
tugenden, die sie prahlerisch als Vorzüge zur 
Schau tragen, im Dorfe, indem sie Stadt und 
Stadtleben in glänzenden Farben schildern. Da- 
durch nähren sie den Drang nach der Stadt. 
Sie selbst wenden sich häufig wieder der Stadt 
zu; Bekanntschaften zuliebe zerreißen sie nur zu 
Vergnügungen samt einer lächerlichen Vereins= leicht die älteren Bande der Heimat, um in der
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.