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I. Rame, Wegriff, Arsprung, Charakter.
Das Wort „Kirche“ ist dem Sprachgebrauch der
griechischen Kirche entklehnt und hat sich nur bei
den germanischen und slawischen Völkern ein-
gebürgert. Es ist von roptanbv, das seit dem
4. Jahrh. bezeugt ist, abgeleitet, während vogran#
bis ins 10. Jahrh. ausschließlich für den Sonn-
tag, erst seit dem 11. Jahrh. auch für das Haus
Gottes gebraucht wird. Dem Gotischen ist das
Wort fremd. Die gotische Bibelübersetzung hat
für das Gotteshaus gudhüs (Joh. 18, 20) oder
alb (Mark. 11, 11), für die kirchliche Gemeinde
und für die Gesamtheit der Christenheit aikkles
(coetus christianorum). Auch die keltischen
Völker kennen nur letzteres Wort: bretonisch ilis,
irisch eaglis, schottisch eaglais. Da aber das
Wort Kirche schon im Althochdeutschen vorhanden
ist (chirikha, kiricha; altnordd. kirika, niederl.
kerk, angels. cirice, engl. church, russ. cer-
kovl, altslow. cruky), so nimmt man an, daß es
aus einem gotischen kyreiké = voptan mit
Genuswechsel (Pl. xvpiaxci, wie Bibel, biblia
von BißAia) abgeleitet sei. Bei seinem ersten Auf-
treten im Deutschen (9. Jahrh.) bezeichnet das
Wort schon die sichtbare Heilsanstalt Jesu Christi,
hat aber wohl das Bild des aufgebauten Gottes-
hauses zur Voraussetzung (Matth. 16, 18: mina
kirichun, altfränk.), denn sonst steht für die Ge-
samtheit der Christen ladhunc, gelathing, chri-
stenheit, samanunc. All diese Ausdrücke sind
seit dem Anfang des 2. Jahrtausends aus dem
Deutschen verdrängt. Das eine Wort kirche,
kilche umschließt alle drei Bedeutungen: Gottes-
haus, Gemeinde, Christenheit. Die Ableitung
des Wortes aus dem Arabischen (Glaser, Woher
kommt das Wort Kirche? (1901) ist wenigstens
zweifelhaft.
Die romanischen Sprachen haben das Wort
ecclesia aus der Heiligen Schrift und der grie-
chischen Kirche übernommen (franz. Sglise, ital.
chiesa, span. iglesia). Die alten Griechen hatten
für die Vereinsversammlung die Bezeichnungen
dlopd, vo ot, dova#loln, cbvodec, übertrugen.
aber in der nachklassischen Zeit den Ausdruck
bende (v. Eu#en) auf jede versammelte Menge.
Die LXX übersetzte ### und „#7 = die Versamm-
lung, besonders die versammelte israelitische Ge-
meinde, abwechselnd mit cov#xr#o## und àau#n###
doch wurde àu### bei den späteren Übersetzern
immer gewöhnlicher. Das Neue Testament hat
oova)osn, mitberechtigter Ausnahme von Jak. 2,2,
auf die jüdische Gemeinde oder Gemeindever-
sammlung und die jüdischen Gebetshäuser be-
schränkt und nennt jede Gemeinde von Christen
ausschließlich à#r###ol0⅜Dieser Sprachgebrauch
wurde von den Bätern festgehalten und im Unter-
schied der Wörter auch ein Unterschied der Be-
griffe erkannt. Das Wort wurde auch auf die
seit dem 3. Jahrh. bezeugten christlichen Gottes-
häuser, in welchen sich die Christen zum Gebet
und Opfer versammelten, übertragen. Daß dies
Kirche.
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schon 1 Kor. 11, 18. 22 geschehen sei, ist exe-
getisch nicht zu erweisen. Vielmehr spricht der
biblische Sprachgebrauch und die Beziehung des
Wortes zum Reiche Gottes für die Bedeutung
„versammelte Gemeinde“ und „Gesamtheit der
Christenheit“.
Aus der Schilderung bei Matth. 16, 18—19
ergibt sich, daß Christus auf Petrus als das Fun-
dament ein Gebäude stellen will, das er „Kirche"
oder „Himmelreich“ nennt. Zugleich übergibter die-
sem Apostel die Schlüssel und umschreibt die dadurch
übertragene Gewalt: Was du auf Erden binden
wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und
was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Him-
mel gelöset sein. Ein zweites Mal spricht Christus
von der Kirche Matth. 18, 15—17, wo er von
der brüderlichen Zurechtweisung redet: Wenn der
Fehlende der privaten Mahnung nicht Folge leistet,
so soll man es der Kirche sagen, und wenn er auch
diese nicht höre, so soll er wie ein Heide und öffent-
licher Sünder angesehen werden. Christus wollte
demnach eine neue Gemeinde gründen, die seine
Lehre bewahren und üben sollte; er verheißt ihr
ewige Dauer (Matth. 16, 18). Indem Christus
Jünger und Apostel auswählt (Luk. 6, 12 f-,
welche die Geheimnisse des Reiches Gottes aller
Welt verkünden sollten (Matth. 28, 19. 20), und
einen aus den Zwölfen als Fundament bezeichnet,
hat er die Grundzüge einer Gemeinschaftsordnung
aufgerichtet und der Kirche eine sichtbare, rechtliche
Form gegeben. Jede Organisation ist Rechts-
bildung, und jede Gemeinschaftsordnung ist Recht.
In der neuen Gemeinde gibt es nach dem Willen
Christi eine Uber= und Unterordnung, die sich
auch in der Disziplinargewalt über die einzelnen
Mitglieder kundgibt (Matth. 18, 17). In andern
Aussprüchen Christi (Matth. Kap. 5 und 13) tritt
allerdings das rechtliche Moment hinter dem sittlich-
religiösen zurück. „Mein Reich ist nicht von dieser
Welt“ (Joh. 18, 36), d. h. die Fürsten dieser
Welt haben von dem neuen Reiche nichts zu fürch-
ten, die Juden mit ihren national-politischen For-
derungen haben nichts von ihm zu erwarten.
Gegenüber der pharisäischen Gesetzlichkeit betont
Christus den Geist und die Liebe, gegenüber der
Veräußerlichung des Gottesdienstes die Inner-
lichkeit und die Anbetung im Geiste und in der
Wahrheit. Die Gewalt soll nicht in irdisch-welt-
licher, herrischer Weise geübt werden (Matth. 20,
28. Luk. 22, 25). Mit friedlichen Mitteln, durch
die der Wahrheit innewohnende sieghafte Gewalt
soll die Welt für das Reich der Gnade und Tu-
gend gewonnen werden. Im Gegensatz zu dem
jüdischen Partikularismus soll das Reich einen
universellen Charakter tragen und sein Ende und
seine Vollendung erst mit der Wiederkunft des
Herrn und mit dem Weltgerichte finden. Aber
das werdende und werbende Reich Gottes ist doch
mitten in diese Welt hineingestellt, um sie zum
Gottesreich umzuwandeln; nicht nur „Gerechte“
und „Heilige“ gehören ihm an, wie das Gleichnis