Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

105 
I. Rame, Wegriff, Arsprung, Charakter. 
Das Wort „Kirche“ ist dem Sprachgebrauch der 
griechischen Kirche entklehnt und hat sich nur bei 
den germanischen und slawischen Völkern ein- 
gebürgert. Es ist von roptanbv, das seit dem 
4. Jahrh. bezeugt ist, abgeleitet, während vogran# 
bis ins 10. Jahrh. ausschließlich für den Sonn- 
tag, erst seit dem 11. Jahrh. auch für das Haus 
Gottes gebraucht wird. Dem Gotischen ist das 
Wort fremd. Die gotische Bibelübersetzung hat 
für das Gotteshaus gudhüs (Joh. 18, 20) oder 
alb (Mark. 11, 11), für die kirchliche Gemeinde 
und für die Gesamtheit der Christenheit aikkles 
(coetus christianorum). Auch die keltischen 
Völker kennen nur letzteres Wort: bretonisch ilis, 
irisch eaglis, schottisch eaglais. Da aber das 
Wort Kirche schon im Althochdeutschen vorhanden 
ist (chirikha, kiricha; altnordd. kirika, niederl. 
kerk, angels. cirice, engl. church, russ. cer- 
kovl, altslow. cruky), so nimmt man an, daß es 
aus einem gotischen kyreiké = voptan mit 
Genuswechsel (Pl. xvpiaxci, wie Bibel, biblia 
von BißAia) abgeleitet sei. Bei seinem ersten Auf- 
treten im Deutschen (9. Jahrh.) bezeichnet das 
Wort schon die sichtbare Heilsanstalt Jesu Christi, 
hat aber wohl das Bild des aufgebauten Gottes- 
hauses zur Voraussetzung (Matth. 16, 18: mina 
kirichun, altfränk.), denn sonst steht für die Ge- 
samtheit der Christen ladhunc, gelathing, chri- 
stenheit, samanunc. All diese Ausdrücke sind 
seit dem Anfang des 2. Jahrtausends aus dem 
Deutschen verdrängt. Das eine Wort kirche, 
kilche umschließt alle drei Bedeutungen: Gottes- 
haus, Gemeinde, Christenheit. Die Ableitung 
des Wortes aus dem Arabischen (Glaser, Woher 
kommt das Wort Kirche? (1901) ist wenigstens 
zweifelhaft. 
Die romanischen Sprachen haben das Wort 
ecclesia aus der Heiligen Schrift und der grie- 
chischen Kirche übernommen (franz. Sglise, ital. 
chiesa, span. iglesia). Die alten Griechen hatten 
für die Vereinsversammlung die Bezeichnungen 
dlopd, vo ot, dova#loln, cbvodec, übertrugen. 
aber in der nachklassischen Zeit den Ausdruck 
bende (v. Eu#en) auf jede versammelte Menge. 
Die LXX übersetzte ### und „#7 = die Versamm- 
lung, besonders die versammelte israelitische Ge- 
meinde, abwechselnd mit cov#xr#o## und àau#n### 
doch wurde àu### bei den späteren Übersetzern 
immer gewöhnlicher. Das Neue Testament hat 
oova)osn, mitberechtigter Ausnahme von Jak. 2,2, 
auf die jüdische Gemeinde oder Gemeindever- 
sammlung und die jüdischen Gebetshäuser be- 
schränkt und nennt jede Gemeinde von Christen 
ausschließlich à#r###ol0⅜Dieser Sprachgebrauch 
wurde von den Bätern festgehalten und im Unter- 
schied der Wörter auch ein Unterschied der Be- 
griffe erkannt. Das Wort wurde auch auf die 
seit dem 3. Jahrh. bezeugten christlichen Gottes- 
häuser, in welchen sich die Christen zum Gebet 
und Opfer versammelten, übertragen. Daß dies 
Kirche. 
  
106 
schon 1 Kor. 11, 18. 22 geschehen sei, ist exe- 
getisch nicht zu erweisen. Vielmehr spricht der 
biblische Sprachgebrauch und die Beziehung des 
Wortes zum Reiche Gottes für die Bedeutung 
„versammelte Gemeinde“ und „Gesamtheit der 
Christenheit“. 
Aus der Schilderung bei Matth. 16, 18—19 
ergibt sich, daß Christus auf Petrus als das Fun- 
dament ein Gebäude stellen will, das er „Kirche" 
oder „Himmelreich“ nennt. Zugleich übergibter die- 
sem Apostel die Schlüssel und umschreibt die dadurch 
übertragene Gewalt: Was du auf Erden binden 
wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und 
was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Him- 
mel gelöset sein. Ein zweites Mal spricht Christus 
von der Kirche Matth. 18, 15—17, wo er von 
der brüderlichen Zurechtweisung redet: Wenn der 
Fehlende der privaten Mahnung nicht Folge leistet, 
so soll man es der Kirche sagen, und wenn er auch 
diese nicht höre, so soll er wie ein Heide und öffent- 
licher Sünder angesehen werden. Christus wollte 
demnach eine neue Gemeinde gründen, die seine 
Lehre bewahren und üben sollte; er verheißt ihr 
ewige Dauer (Matth. 16, 18). Indem Christus 
Jünger und Apostel auswählt (Luk. 6, 12 f-, 
welche die Geheimnisse des Reiches Gottes aller 
Welt verkünden sollten (Matth. 28, 19. 20), und 
einen aus den Zwölfen als Fundament bezeichnet, 
hat er die Grundzüge einer Gemeinschaftsordnung 
aufgerichtet und der Kirche eine sichtbare, rechtliche 
Form gegeben. Jede Organisation ist Rechts- 
bildung, und jede Gemeinschaftsordnung ist Recht. 
In der neuen Gemeinde gibt es nach dem Willen 
Christi eine Uber= und Unterordnung, die sich 
auch in der Disziplinargewalt über die einzelnen 
Mitglieder kundgibt (Matth. 18, 17). In andern 
Aussprüchen Christi (Matth. Kap. 5 und 13) tritt 
allerdings das rechtliche Moment hinter dem sittlich- 
religiösen zurück. „Mein Reich ist nicht von dieser 
Welt“ (Joh. 18, 36), d. h. die Fürsten dieser 
Welt haben von dem neuen Reiche nichts zu fürch- 
ten, die Juden mit ihren national-politischen For- 
derungen haben nichts von ihm zu erwarten. 
Gegenüber der pharisäischen Gesetzlichkeit betont 
Christus den Geist und die Liebe, gegenüber der 
Veräußerlichung des Gottesdienstes die Inner- 
lichkeit und die Anbetung im Geiste und in der 
Wahrheit. Die Gewalt soll nicht in irdisch-welt- 
licher, herrischer Weise geübt werden (Matth. 20, 
28. Luk. 22, 25). Mit friedlichen Mitteln, durch 
die der Wahrheit innewohnende sieghafte Gewalt 
soll die Welt für das Reich der Gnade und Tu- 
gend gewonnen werden. Im Gegensatz zu dem 
jüdischen Partikularismus soll das Reich einen 
universellen Charakter tragen und sein Ende und 
seine Vollendung erst mit der Wiederkunft des 
Herrn und mit dem Weltgerichte finden. Aber 
das werdende und werbende Reich Gottes ist doch 
mitten in diese Welt hineingestellt, um sie zum 
Gottesreich umzuwandeln; nicht nur „Gerechte“ 
und „Heilige“ gehören ihm an, wie das Gleichnis
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.