Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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seine jugendliche Vorliebe für naturwissenschaft- 
liche Arbeiten. Schon 1716 hatte Montesquien 
mit Unterstützung des Herzogs de la Force eine 
für die Pflege der Künste und schönen Wissen- 
schaften in Bordeaux bestehende Akademie in eine 
Gelehrtengesellschaft umgewandelt; vor ihr glänzte 
er durch ein hervorragendes Talent für natur- 
wissenschaftliche Beobachtung noch unerforschter, 
für die Generalisierung geeigneter Naturerschei- 
nungen. Allein ein schweres Augenleiden und die 
Schwierigkeiten, welche sich aus den damals noch 
wenig gesicherten methodischen Grundlagen exakter 
Naturforschung für seine Arbeiten ergaben, ließen 
es bei eifrigstem Streben zu keinem rechten Er- 
folge kommen. Nichtsdestoweniger hielt Montes- 
quien an den Prinzipien der Beobachtung und der 
Generalisierung als den bahnbrechenden für alles 
wissenschaftliche Studium fest, schränkte dieselben 
aber für sein eignes Arbeiten fortan auf die mo- 
ralischen und historischen Wissenschaften ein, und 
so entstand nach mancherlei Irrungen bei ihm der 
Gedanke, wenn nicht eine Enzyklopädie, so doch 
eine Theorie der allgemeinen Jurisprudenz zu 
schaffen. Seine Erstlingsversuche nach dieser Rich- 
tung waren die Vorträge: Politiqgue des Ro- 
mains sur la religion; Eloge du duc de la 
Force; Vie du maréchal de Berwick. 
Im Jahre 1721 erschienen anonym die Let- 
tres persanes nach dem Vorbilde der Sia- 
mois in den Amusements sérieux et comiques 
von Dufresny. Der Inhalt der Lettres bot eine 
beispiellos frivole Satire auf die französischen Ge- 
sellschaftszustände unter der leichten Maske des 
esprit, der „geistreichen“ Gesinnungslosigkeit. Die 
Fabel der Lettres ist die Reise einiger Perser zur 
Erforschung europäischer Sitten und Anschauungen 
und der briefliche Austausch der in Moskau, 
Venedig, meist in Paris gemachten Beobachtungen. 
Am nüchternsten berichtet der Moskaureisende über 
die Reformen Peters d. Gr. Die drei Pariser 
Korrespondenten teilen sich in die Arbeit: Rica 
schreibt über Sitten und Unsitten, Usbek über 
Religion und Philosophie, Rhedi über Politik. 
Skandale in Usbeks „Serail“ bereiten der Reise 
und der Briesschreiberei ein jähes Ende. Wieder- 
holt leugnete Montesquien die Autorschaft der 
Lettres ab. So war die bestehende Ordnung als 
solche, nicht bloß ihre Korruption, der allgemeinen 
Verachtung noch nicht preisgegeben worden. Bos- 
hafte Verhöhnung der Monarchie, des alters- 
schwachen Ludwig XV., der Landesinstitutionen, 
irreligiöser, die niedrigsten Instinkte erregender 
Spott über die Dogmen, die Personen, das Leben 
der Kirche, lüsterne Brutalitäten unbeschreiblicher 
Art, unauslöschlich herabsetzende Ironisierung der 
Justiz und ihrer Träger waren hier der „geist- 
reichen“ Welt in gedrängtester, gemeinverständ- 
licher, doch von der Sprechweise des Gemeinen 
sich raffiniert zurückhaltender Sprache geboten. 
Selten hat ein Buch den Forderungen einer auf- 
steigenden Literaturbewegung, wie sie der damalige 
Montesquieu. 
  
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esprit darstellte, so sehr entsprochen, selten sich 
aber auch so bedingungslos in den Dienst anti- 
christlicher und antisozialer Anschauungen gestellt. 
Daher der unerhörte Beifall aus allen Gesell- 
schaftsklassen. Ohne es zu wollen, war Montes- 
quieu der Dolmetsch der noch latenten revolutio- 
nären Gärung geworden in der Stärkung und 
Weckung ihrer verhängnisvollsten Fermente: der 
freigeisterischen Leichtlebigkeit und Frivolität nach 
oben und der radikalen Feindseligkeit gegen die 
bestehende Ordnung nach unten. 
In dieser Richtung trieb ihn die politisch- 
soziale Lage seines Landes und seiner Um- 
gebung weiter und weiter. Noch hatten die letzten 
Regierungsjahre Ludwigs XIV. in dem religiös 
durch die Mißhandlung der Kirche, sittlich durch 
das Beispiel des Hofes und Adels, wirtschaftlich 
durch die absolutistische Kabinettspolitik, durch die 
Kriegs= und Verwaltungskorruption maßlos ver- 
elendenden Volke wenigstens eine gewisse Achtung 
der äußern Ordnung aufrecht erhalten; jetzt, unter 
der Regentschaft (1715/23) und den Anfängen 
Ludwigs XV., hatten irreligiöse Freigeisterei, her- 
ausfordernde Mißachtung der Sittlichkeit, freche 
Verletzung aller Ordnung die breiten Volksmassen 
ergriffen. Eine veränderte Anschauung und Be- 
handlung der öffentlichen Angelegenheiten hatte 
sich Bahn gebrochen, zumeist unter dem Einfluß 
der englischen, zumal deistischen Literatur. Der 
versteckte und gelehrte Unglaube der Deisten, die 
zügellose Skepsis der Politiker aus der Schule 
Bolingbrokes, die öde Geistreichigkeit des dama- 
ligen Klassizismus, die Freiheit, alles zu sagen 
und alles zu schreiben, alles dem Dienste materieller 
Interessen zu opfern, hatte der schöngeistigen 
Literatur jene materialistische, prosaische, vulgäre, 
tief antichristliche Tendenz eingeflößt, die in der 
Encpyclopédie (seit 1751) ihnen Sammel= und 
Mittelpunkt fand. Wenn die Enzyklopädisten, 
d'Alembert an der Spitze, dessen Eloge de 
Montesquieu den fünften Band der Encyclo- 
pPédie eröffnete, in Montesquien ihren einfluß- 
reichsten Wegbahner, zumal in den höheren Ge- 
sellschaftsschichten, feierten, so stand das mit der 
in den Lettres eingenommenen prinzipiellen Stel- 
lung in vollem Einklange. 
Was Montesquien zeitlebens in dieser zwei- 
deutigen Stellung gegenüber den Umsturz- 
elementen festhielt, waren einerseits seine Ver- 
bindungen mit dem Pariser Lebeadel, anderseits 
die Traditionen seiner Parlamentstätigkeit. In 
Paris verkehrte er beständig in den Zirkeln des 
Hötel de Soubise, des Präsidenten Hénault, wo 
die Freigeister der diplomatischen und literarischen 
Welt, die „Philosophen“, ihre Zusammenkünfte 
hatten und wo, wie bei dem Präsidenten Hénault, 
das englische Element vorherrschte. Auch die „Ge- 
sellschaften“ des Fräuleins de Clermont besuchte 
er, und für letztere schrieb er 1725, vier Jahre 
nach den Lettres, die mit „hellenischem Geiste“ 
kaum verdeckten Obszönitäten Le temple de
	        
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