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Gnide, eine „Apokalypse der Galanterie“, wie
Madame du Deffand sagte. Wahrung gewisser
äußerer Formen bei innerer Verkommenheit und
einer Frivolität des Denkens, die alles höhere
Pflichtbewußtsein tötet, das machte das Wesen
dieses Gesellschaftslebens aus. Montesquien konnte
sich bis in sein reisstes Alter so wenig davon
trennen, daß Erzählungen desselben Stiles, wie
Le voyage de Paphos, Céphise et IAmour
und Arsace et Isménie, seine Hauptpublikationen
begleiteten.
Auch die damals von ihm noch festgehaltene
Stellung an der Spitze des Parlaments zu Bor-
deaux war wenig geeignet, seinem Leben eine
ernstere Richtung zu geben. Die Parlamente,
seit Richelieu alles direkten Einflusses auf den
Gang der Staatsangelegenheiten entkleidet, heute
um die Gunst des Hofes buhlend, morgen dessen
toller Verschwendungssucht entgegentretend, mit
engem Korpsgeist ihre Privilegien pflegend, waren
lediglich ihrer Feindseligkeit gegen jede freie Be-
wegung der Kirche treu geblieben und hatten sich
in der Ausbildung des schärfsten Staatskirchen-
rechts als eine Vormacht des sozialen und poli-
tischen Umsturzes ausgebildet. Woher hätte Mon-
tesquien eine edlere und geläuterte Anschauung
von der sozialen Bedeutung der Kirche und des
Christentums nehmen sollen? Das siegreiche Vor-
dringen des Rationalismus aus der Schule Des-
cartes' selbst in so einflußreichen Instituten wie
Juilly, das erbitterte sektiererische Treiben der
Jansenisten und Gallikaner, die zweideutige Stel-
lung der Staatsgewalt, für welche nach wie vor
der Kampf der Kirche gegen Irrtum und Spaltung
nur ein Mittel zur Stärkung staatlicher Macht-
vollkommenheit blieb: alles das erklärt bei Mon-
tesquien nicht nur die Voreingenommenheit gegen
die Kirche in allen ihren Lebensäußerungen, die
Unfähigkeit, ihre große soziale Vergangenheit zu
verstehen und derselben gerecht zu werden, sondern
auch die Feindseligkeiten gegen kirchliche Institu-
tionen, welche in die Zirkel seiner rationalistischen
Abstraktionen sich nicht einfügen ließen.
Nach seiner Aufnahme in die Akademie (1727)
unternahm Montesquieu weite europäische Reisen.
In Wien verkehrte er 1728 viel mit dem Prinzen
Eugen; er besuchte Ungarn und wandte sich dann
nach Italien. In Venedig befiel ihn solche Angst
vor dem Rate der Fünf, daß er seine Reiseaufzeich-
nungen ins Meer warfz er verkehrte dort mit zwei
der berühmtesten Abenteurer der Zeit, dem Schotten
Law und dem Grafen de Bonneval; in Rom be-
suchte er Benedikt XIV. und trat in Verbindung
mit den Kardinälen Corsini (Klemens XII.) und
Polignac. Montesquien besuchte noch die Schweiz,
Holland und England;z letzteres Land mißfiel ihm
trotz literarischer Ehrungen und des Empfanges
bei Hofe; nur rühmte er, daß „man dort sehr frei
sei“. Nach seiner Rückkehr lebte er abwechselnd der
Geselligkeit in Paris und der Zurückgezogenheit
zu Brede.
Montesgquien.
1238
Die Eindrücke der Reise und ein zweijähriges
Stillleben zu Brede hatten aus einem Traité sur
Thistoire romaine, an welchem er seit sechs
Jahren gearbeitet, etwas Fertiges zuwege gebracht
(1734), Studien über Altrom, die Con-
sidérations sur les causes de la grandeur et
de la décadence des Romains, das wichtigste,
weil in sich abgeschlossene seiner Werke. Montes-
quien will die Frage beantworten, wie Rom aus
einem Tatarenlager, der Zufluchtsstätte von Gesetz-
losen und Abenteurern, das Haupt der Welt ge-
worden. Er findet die Größe Roms begründet
in der Vaterlands= und Freiheitsliebe der Römer,
in der militärischen Disziplin, der Despotie im
Lager, der Freiheit in der Stadt, in der öffent-
lichen Diskussion der Gesetze und der bedeutsamsten
Staatsaktionen, in dem dadurch geweckten und ge-
schulten Gemeinsinne des Volkes, in der rastlosen,
auf die Universalherrschaft gerichteten Verbesserung
der Staatsinstitutionen, namentlich in der prä-
ponderierenden Souveränität des Senates, in dem
nie verzagenden Starkmute, der auch bei Nieder-
lagen den Frieden nur mit dem niedergeworfenen
Feinde schließen mochte, in dem Triumphe und den
königlichen Belohnungen der Heerführer, in der
Politik, nach außen sich stets als Schiedsrichter
zwischen den Völkern und Fürsten oder zwischen
letzteren aufzuwerfen, in der Achtung vor der Reli-
gion der Besiegten, in der Taktik, nie zwei Feinde
zugleich zu bekämpfen. Die Ursachen des Ver-
falles erkennt er in der unbemessenen Ausdeh-
nung des Reiches, in den Kriegen mit dem fernen
Auslande, welche die stehenden Heere zur Not-
wendigkeit machten, in dem asiatischen Luxus der
Staatslenker und der Privaten, in den Proskrip-
tionen, welche das Altbürgertum durch das kosmo-
politische Sklaventum, zumal jener asiatischen
Freigelassenen ersetzen wollte, denen die Freiheit
nur eine Last war, in der Herrschaft orientalischer
Sitten über die leitenden und regierenden Klassen,
in der Umbildung des Gemeinwesens zu einer
orientalischen Militärmonarchie, in der Verpflan-
zung der Reichsregierung nach Konstantinopel.
Man sieht dieser Antwort, welche Montesquien
auf das Spottprogramm der Lettres gegeben,
den Ernst nachdenkender Arbeit, hohen Scharf-
sinn und das Ringen an, mit dem Problem der
Welt= und Gesellschaftsentwicklung ins reine zu
kommen. Ihre Bedeutung bleibt auch nach den
bewundernswerten Arbeiten der historischen, zu-
mal deutschen Kritik über die ersten Jahrhunderte
römischer Geschichte und bei dem helleren Lichte,
das die Erfahrungen des politischen Lebens und
der großen Volksbewegungen unserer Tage auf die
römische Geschichte geworfen, eine tiefgreifende,
weit über die gleichartigen Versuche des Polybius,
Machiavelli und St. Evremond hinausgehende.
Während Polybius vorwiegend Kriegs-, Machia-
velli Verfassungs-, St. Evremond Sittengeschichte,
zum Teil aus sehr engen, oft leichtfertig mit
den Tatsachen umspringenden Gesichtspunkten