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auflösenden Sitten, Gewohnheiten und Interessen
der verschiedenen Klassen der Staatsbürger im Ein-
klange und behinderten ebenso die Regierungen,
die zu ihrer Aufrechthaltung als der einzigen Ga-
rantien öffentlicher Ordnung verpflichtet waren.
In außergewöhnlichem Maße beschäftigte daher
die zeitgemäße Umgestaltung der öffentlichen In-
stitutionen die Geister, und man begreift, welchen
Einfluß ein Buch gewinnen mußte, das sich als
der Inbegriff der Erfahrungen der Jahrhunderte
in Sachen der Gesetzgebungs= und Regierungs-
wissenschaft darbot und von allen die Offentlichkeit
beherrschenden Faktoren angepriesen wurde. Daß
dieser an sich christentumsfeindliche Einfluß in
einer Zeit des siegreichen Unglaubens und revolu-
tionärer Freigeisterei geradezu verhängnisvoll wer-
den mußte, lag auf der Hand. Montesquien wurde
der Vater des modern-liberalen, wie J. J. Rous-
seau der des modern-radikalen Staatsgedankens.
Von letzterem unterscheidet sich ersterer nur durch
das Maß der ihm durch seinen Bildungsgang,
seine Umgebung, ferner durch die Lebensstellung
annoch gebotenen Zurückhaltung.
Die sieben letzten Lebensjahre waren für
Montesquien wenig zufriedenstellend. Warum er
trotz des Drängens seiner Freunde und der Mahn-
rufe der Enzyklopädisten nicht dazu gekommen ist.
für das Hauptwerk seines Lebens einen Abschluß
zu finden, dafür bieten unseres Erachtens sein per-
sönlicher Charakter, seine gesellschaftliche Stellung,
die abnehmenden Kräfte, der aufreibende Zwie-
spalt zwischen seinen religiösen und politischen
Anschauungen, zwischen seinen aristokratischen Be-
Montesgquien.
ziehungen und seinen Verbindungen mit den Enzy-
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Montesquien vor Empfang der Sterbesakramente
veröffentlichte. In letzterem findet sich nach der
Versicherung des Präsidenten, er sei nie ungläubig
gewesen, auf die Frage, wie er dazu gekommen,
so berechtigte Zweifel an seiner gläubigen Gesin-
nung durch seine Schriften zu erregen, die Ant-
wort: dazu habe ihn „der Geschmack am Neuen
und Ungewöhnlichen“ gebracht, das Streben, für
einen den alltäglichen Vorurteilen und Grund-
sätzen überlegenen Geist zu gelten, der Wunsch, zu
gefallen und den Beifall jener Personen zu ver-
dienen, welche die öffentliche Wertschätzung be-
einflussen und ihren Beifall nie zuverlässiger ge-
währen, als wenn man ihnen ein Recht zu geben
scheint, das Joch aller Abhängigkeit und aller
Furcht wegzuwerfen. Grimm schreibt in seiner
Correspondance (15. Febr. 1755): „Er (Mon-
tesquieu) ist aus dem Leben geschieden, ohne daß
das Publikum sozusagen es gemerkt hätte. Sein
Leichenbegängnis hatte von allen Männern der
Literatur bloß Diderot zum Zeugen."“
Außer den bereits erwähnten Schriften M.8
ist noch hinzuweisen 1) auf die von ihm sofort nach
ihrem Erscheinen in Holland (1727) unterdrückte
Schrift Réflexions sur la monarchie universelle
en Europe, welche die Universalmonarchie in Eu-
ropa fortan als eine Unmöglichkeit hinstellte, ein
Irrtum, den der Napoleonische Abschluß der Revo-
lution widerlegt hat; 2) auf eine nur bruchstück-
weise veröffentlichte Histoire de Louis XI1; 3) auf
das Meisterstück eines Dialogs Dialogues de Sylla
et de Lysimaque (Par. 1748), die psychologisch
überaus feine Charakteristik eines Despoten; 4) auf
die wenig bedeutsame Correspondance u. die Pen-
sées im Anhang seiner Werke. — Über den großen
klopädisten eine ausreichende Erklärung. Alles handschriftlichen Nachlaß berichtet eingehend die
dies wollte er mit der ihm eignen zähen Zurück- Biographie universelle XXI 89 ff, wo die Re-
haltung bis zuletzt nicht missen. Er verteidigte tractations übersehen sind; wahrscheinlich wurden
seine Orthodoxie gegen das Journal de Trévoux, biese von der Herzogin von Aiguillon unterschlagen.
gegen die Nouvelles ecclésiastiques, gegen die Neues zu seiner Biographie u. zur Geschichte seiner
Sorbonne, gegen die Indexkongregation, welche Ideenentwicklung ist nach diesem Berichte kaum zu
die Lettres persanes am 24. Mai 1761 und erwarten, auch nicht von der durch Laine eingesehe-
den Esprit des Lois am 2 März 1752 verur= nen unveröffentlichten Privatkorrespondenz.-# Die
teilte. Er arbeitete an Retraktationen für die Let- besten Ausgaben der Euvres sind die von Nuger
6 Bde, Par. 1816), Lequien (8 Bde, ebd. 1819),
tres, veranstaltete aber noch ein Jahr vor seinem Parelle (mit Barianten u. Noten, 8 Bde, ebd. 1826
Tode eine unveränderte, nur mit Zusätzen ver= bis 1827), Laboulaye (7 Bde, 1875/79), alle mit
mehrte Ausgabe derselben. Er pflegte nach wie vor Lebensbeschreibungen zum Teil sehr ausführlicher
das Leben in den aristokratischen Pariser Zirkeln
und setzte seine letzte Arbeitskraft an den ebenfalls
unvollendeten Essai sur le goünt, den d'Alembert,
so wie er war, in der Encyclopédie zum Abdruck
brachte. .
Montesquie starb zu Paris am 10. Febr. 1755
im Alter von 66 Jahren, nachdem er sich vom
Pfarrer von St- Sulvice die heiligen Sterbe.
sakramente hatte reichen lassen. Über sein Ende
liegen zwei Berichte vor: der von Walkenaer zu-
sammengestellte, welcher den christlichen Tod des
Präsidenten als eine letzte Farce hinstellte, und
der des Jesuitenpaters Routh, der einige Zeit nach i
seinem Tode an den Nuntius Gualterio einen ein-
gehenden Bericht über seine Unterredungen mit!
Art. Von wertvollen Einzelausgaben sei hinge-
wiesen auf die der Lettres persanes von Mayer
(1841), auf den Kommentar zu dem Esprit des
Lois von Destutt de Tracy (1819). Die Lettres
persanes wurden verdeutscht von A. Strodtmann
(1866), der Esprit des Lois von Hauswald (3 Bde,
1829), Ellissen ((1854) u. A. Fortmann (1891).
Außerdem ist aufmerksam zu machen auf Villemain,
Eloge de M. (Par. 1816); Dangeau, M., biblio-
graphie des ses ceuvres (ebd. 1874); Charaux,
T'esprit de M. (ebd. 1885); Janssen, M.3 Theorie
von der Dreiteilung der Gewalten im Staate
(1878); Vian, Histoire de M. d’après des docu-
ments nouveaux et inédits (Par. 21879); die
Biographie von Sorel (Par. 1887; deutsch von
Kreßner, 1896). Das Material zur religiösen Po-
lemik u. zur Kontroverse über seinen Tod findet