Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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spiegelt. Dennoch lassen sich als Gegensatz zur 
christlich-katholischen Weltanschauung folgende Ge- 
meinsamkeitspunkte der Schule anführen: 
a) Die Ehe ist nicht unauflöslich, ja die Schei- 
dung wird zur sittlichen Pflicht, wenn durch irgend 
einen Umstand sexueller Natur das Zusammen- 
leben der Eheleute schwierig oder unhaltbar ge- 
worden ist. 
b) Der zur Reife gekommene Mensch hat ein 
Recht auf Betätigung seines Geschlechtstriebes und 
kann verlangen, daß ihm dieses „nicht durch 
heuchlerische Beschimpfung oder gesetzliche Ein- 
schränkungen verkümmert werde"“ (Maria Lisch- 
newska in Frauenbewegung vom 1. April 1908). 
IP) Bei der „Mangelhaftigkeit der heutigen Ehe- 
gesetzgebung als alleiniger Regulierung der ge- 
schlechtlichen Beziehungen“ (Entwurf zu einem 
Programm des Deutschen Bundes für Mutter- 
schutz von Dr Max Flesch) wird als Ersatz der 
Ehe, als Ehesurrogat, auch das freie Verhältnis 
zugelassen, wenn auch als eine niedrigere Form 
der Geschlechtsverbindung. 
d) „Die Mutterschaft soll eine Ehre und Würde 
werden, gleichviel wie sie erworben ist“ (Maria 
Lischnewska in Bund für Mutterschutz Hft 4). 
Es sei ausdrücklich hervorgehoben, daß der dem 
Bunde so oft gemachte Vorwurf: er verwerfe die 
Ehe und predige das Recht rücksichtslosen Aus- 
lebens, dennoch nicht haltbar ist. Nach den Auße- 
rungen einzelner darf man den Bund als Gesamt- 
heit eben nicht beurteilen. Er preist, wenigstens 
theoretisch, die Dauerehe als die höchste Form 
der Geschlechtsverbindung. Und an die sexuelle 
Betätigung, auch im freien Verhältnis, knüpft 
er die Pflicht der Verantwortung gegenüber dem 
andern Teile und gegenüber den Nachkommen. 
Aber er ist unlogisch, da er das Ziel will ohne die 
Mittel. 
II. Kritik der Mutterschutzewegung vom 
christlich-Katholischen Standpunkt. Die prak- 
tische Arbeit des Bundes (Mutterschutz im engeren 
Sinne) ist prinzipiell anzuerkennen; hat man doch 
auch auf katholischer Seite, und zwar lange be- 
vor die neuethische Bewegung einsetzte, eine syste- 
matische Fürsorge für die unehelichen Mütter ein- 
gerichtet (Schwestern vom Guten Hirten, Katho- 
lischer Fürsorgeverein für Mädchen, Frauen und 
Kinder) und Leistungen erzielt, hinter denen die 
Leistungen des Bundes weit zurückbleiben. Das 
Verdienst der Mutterschutzbewegung bleibt es aller- 
dings, durch laute und unausgesetzte Propaganda 
einen großen Teil der Gebildeten für die Sache 
des Mutterschutzes interessiert und auch die Be- 
hörden auf einzelne Mißstände und die Notwen- 
digkeit entsprechender Resormen aufmerksam ge- 
macht zu haben. 
Aber die Art und Weise des Bundes, praktische 
Arbeit zu verrichten, müssen wir ablehnen. Denn 
er schließt nicht nur jede erziehliche Einwirkung 
auf die unehelichen Mütter aus („weiterhin hören 
unsere Mütter nie ein Wort des Tadels oder der 
Mntterschutz. 
  
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Ermahnung“, sagt Maria Lischnewska in Nr 3 
der Schriften des Bundes für Mutterschutz), son- 
dern er will sie auch gewissermaßen glorifizieren, 
gemäß dem Satze, daß die Mutterschaft unter 
allen Umständen eine Ehre und Würde werden 
soll siehe oben). Aus derselben Tendenz heraus 
stempelt er die 180 000 unehelichen Kinder, die 
in Deutschland jährlich geboren werden, als 
„Sprossen junger, feuriger Liebesbündnisse“ zu 
einem Volksschatz von hoher sozialer und wirt- 
schaftlicher Bedeutung. 
Vom religiös-sittlichen Standpunkte aus be- 
trachtet, hat die uneheliche Mutter aber immer 
eine Sünde hinter sich, die man verurteilen muß, 
selbst wenn man pflichtgemäß für die Person Ent- 
schuldigungsgründe gelten läßt und die harten 
Folgen ihrer Tat mildert. Auch die sozialen und 
nationalökonomischen Erfahrungen sprechen gegen 
die Glorifizierung der unehelichen Mutter und des 
unehelichen Kindes. Jene wurde nicht immer das 
Opfer unglücklicher persönlicher und gesellschaft- 
licher Verhältnisse, sondern ebenso oft ihrer eignen 
Haltlosigkeit und Leichtgläubigkeit, ihres Leicht- 
sinns und ihres ungezügelten Trieblebens. Und 
die 180 000 unehelichen Kinder, deren oft erbliche 
Belastung nach statistischem Erweis die Ursache ist, 
daß sie in unverhältnismäßig hoher Zahl die 
Schar der Gewohnheitstrinker, Zuhälter, Prosti- 
tuierten und Verbrecher vermehren, können eher 
als ein Volksunglück und eine Volkslast denn als 
ein Volksschatz bezeichnet werden. 
Die neuethischen Reformziele (Mutterschutz im 
weiteren Sinne) sind noch viel schärfer abzulehnen, 
weil sie nicht nur eine Übertreibung an sich guter 
Tendenzen darstellen, sondern eine direkte Ver- 
neinung jener Grundbegriffe, auf denen sich das 
Gebäude unserer religiös-sittlichen und sozialen 
Weltanschauung erhebt. 
a) Sie gefährden die sozialen Interessen 
der Menschheit, indem sie an die Stelle allgemein- 
gültiger Gesetze und Normen, ohne die ein Ge- 
sellschaftskörper nicht bestehen kann, die mannig- 
faltigen, objektiv nicht meßbaren Bedürfnisse des 
persönlichen Glücksgefühls setzen und so die gegen- 
seiligen Rechte und schweren Pflichten der geschlecht- 
lichen Verbindung von den wandelbarsten Faktoren 
abhängig machen. 
b) Sie umschließen demgemäß tiefgreifende 
persönliche und gesellschaftliche Kom- 
plikationen, unter denen hauptsächlich die 
Schwächeren zu leiden haben: die Kinder, die 
nur bei dauernder Gemeinschaft der Eltern die 
beste und erfolgreichste Erziehung und Sicherung 
ihrer Zukunft finden; die Frauen, die das sog. 
freie Verhältnis in viel geringerem Maße vor 
männlicher Willkür, vor sittlicher Erniedrigung 
und wirtschaftlicher Vergewaltigung schützt als die 
Ehe. Wenn die sexuellen Fesseln gelockert werden, 
so hat davon fast nur der Stärkere, der Mann. 
einen Gewinn, wenn es auch in der Idee nicht 
beabsichtigt war. Und der Gesellschaftskörper muß
	        
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