Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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Befähigung einer Nation entscheidet in letzter In- 
stanz die Macht der Tatsachen. Dennwenn Bluntschli 
von Vorsehung und göttlicher Weltregierungspricht, 
so haben wir uns darunter nicht viel zu denken. 
Darin erkennt er ja gerade den Unterschied des 
„modernen“ Staates vom „mittelalterlichen“, daß 
dieser den Staat und die Staatsgewalt von Gott 
ableitet, während jener sich „bescheidet, den Ge- 
danken Gottes nicht ergründen zu können, und 
sich bemüht, den Staat menschlich zu begreifen“ 
(a. a. O. 64). Gelingt also einer Nation die 
Staatsbildung, so ist sie politisch befähigt; unter- 
liegt sie hingegen mächtigeren Völkern, so ist das 
ein Zeichen ihrer politischen Unfähigkeit, und ihre 
Unterwerfung besteht zu Recht. Hier haben wir 
eine ziemlich unverblümte Proklamierung des 
Rechts des Stärkeren. Den Sarazenen und Tür- 
ken gelang es, in Asien und Europa zahlreiche 
Völker mit Gewalt dauernd zu unterjochen. Folg- 
lich hatte das „Gottesgericht in der Weltgeschichte" 
die politische Unfähigkeit dieser Völker ausge- 
sprochen, ihre Unterwerfung war berechtigt. Alle 
Eroberungen der Engländer und Russen in Asien 
bestehen zu Recht. Sollte es morgen einem kühnen 
russischen Eroberer gelingen, sich Deutschland 
dauernd zu unterwerfen, so wäre Deutschland als 
politisch unfähig zu betrachten. — Die Behaup- 
tung Bluntschlis, jede Nation, welche die Kraft 
zur Staatenbildung in sich verspüre, habe das 
Recht, alle Glieder zu sammeln, deren sie zu ihrer 
Entfaltung bedürfe, setzt außerdem voraus, die 
Nation bilde als solche schon vor jeder politischen 
Organisation ein einheitliches Rechtssubjekt. Das 
ist aber ein Irrtum, der noch als ein Rest Hegel- 
scher pantheistischer Anschauungen angesehen wer- 
den mag und von den vielen Verteidigern des 
Nationalitätsprinzips stillschweigend vorausgesetzt 
wird. Ist eine Nation nicht staatlich geeint, so 
bildet sie gar keine physische oder moralische Ein- 
heit, sondern bloß eine logische oder begriffliche, 
ähnlich wie alle Handwerker oder Soldaten in 
Europa eine begriffliche Einheit bilden. Der 
Begriff Nation bezeichnet dann nichts anderes als 
die Gesamtzahl aller Individuen, welche denselben 
Nationaltypus haben und dieselbe Nationalsprache 
reden. So bilden die Deutschen in Deutschland, 
Osterreich, der Schweiz, in Rußland, Ungarn, 
Luxemburg, obwohl sie derselben Nation an- 
gehören, doch keinen einheitlichen Besitzer von 
Rechten oder eine moralische Person. Man kann 
daher auch nicht von einem einheitlichen Recht der 
Nation als solcher, sondern nur von Rechten der 
Individuen auf Grund ihrer Nationalität sprechen. 
Vielleicht wird man uns das entgegenhalten, 
was wir oben über die providentielle Bedeutung 
der Verschiedenheit der Nationen gesagt haben: 
hat jede Nation eine ihr von der Vorsehung zu- 
gewiesene Aufgabe, so hat sie auch die dazu 
nötigen Rechte, also vor allem das Recht der 
Selbständigkeit. Wir erwidern: Wenn wir von 
Aufgaben der Nationen sprechen, so verstehen wir 
Nation ufw. 
  
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darunter nur die Aufgaben, welche von der Vor- 
sehung den Gliedern einer Nation im allgemeinen 
zugeteilt sind, ohne der Nation als solcher oder 
den einzelnen Individuen derselben eine strenge 
Verpflichtung aufzuerlegen. Die bloß logische 
Einheit dieser Aufgaben macht die Nation nicht 
zu einer moralischen oder juristischen Person, 
welche als solche der Träger einheitlicher Rechte 
wäre. Man kann also nicht von einem „Recht der 
Nation auf Sammlung ihrer Glieder“ sprechen. 
Sodann geben die genannten Aufgaben den Glie- 
dern einer Nation nicht das Recht auf alle, son- 
dern nur auf sittlich erlaubte, niemand un- 
gerecht schädigende Mittel. Es handelt sich ja 
hier, wie schon bemerkt, nicht um Aufgaben, zu 
denen Gott die einzelnen unbedingt verpflichtet, 
sondern um solche, zu deren Erfüllung er sie auf 
sanfte Weise durch ihre Anlagen hinzieht. So 
haben, um uns eines Vergleichs zu bedienen, alle 
Menschen im allgemeinen einen ihnen von der 
Vorsehung bestimmten Beruf. Doch verpflichtet 
Gott die einzelnen nur dann zur tatsächlichen 
Ergreifung dieses Berufes, wenn ihnen derselbe 
zur Erreichung ihres letzten Zieles notwendig ist. 
Außer diesen Fällen begnügt er sich, sie auf sanfte 
Weise und ohne Zwang ihrem Berufe zuzuführen. 
so daß der menschlichen Freiheit immer der größte 
Spielraum gelassen wird. Es kann daher auch 
niemand auf die allgemeine Bestimmung zu einem 
Beruf die Befugnis gründen, sich über bestehende 
Rechte hinwegzusetzen. In noch viel höherem 
Maße gilt dies von den den Nationen gesetzten 
Aufgaben. Denn diese sind weniger notwendig 
und minder genau umgrenzt als die verschiedenen 
Lebensberufe der einzelnen Menschen, daher ver- 
pflichtet auch Gott weder die gesamte Nation 
noch die einzelnen Individuen derselben unbedingt 
zur Erfüllung dieser Aufgaben. Ohne Zwang 
weiß er sie durch ihre Anlagen und Neigungen 
seinen Absichten dienstbar zu machen. Daraus 
folgt nun wohl die Pflicht, die Nationalität nicht 
gewaltsam zu unterdrücken und den einzelnen An- 
gehörigen derselben, soweit keine höheren Rechte 
im Wege stehen, Licht und Raum zur Entfaltung 
zu gewähren. Aber ein Recht der Nation in ihrer 
Gesamtheit oder in ihrer Mehrheit, die bestehen- 
den Staatenordnungen umzustürzen und einen 
neuen Staat zu gründen, läßt sich daraus nicht 
herleiten. 
Es wird dies noch einleuchtender, wenn wir 
bedenken, daß die Nationalitäten ihre Haupt- 
bedeutung auf dem Gebiete der Kultur in Bezug 
auf Sitten, Wissenschaft, Kunst und Literatur 
haben und diese Kulturaufgaben sich auch lösen 
lassen, wenn eine Nation ganz oder teilweise 
fremder Herrschaft unterworfen ist. Man denke 
nur an den Einfluß der Hellenen auf die Kultur 
des römischen Reichs. Ja gerade durch gegen- 
seitigen Verkehr und mannigfache politische Ver- 
mischung werden die durch die Verschiedenheit der 
Nationalitäten bedingten Vorteile oft am leich-
	        
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