1287
Befähigung einer Nation entscheidet in letzter In-
stanz die Macht der Tatsachen. Dennwenn Bluntschli
von Vorsehung und göttlicher Weltregierungspricht,
so haben wir uns darunter nicht viel zu denken.
Darin erkennt er ja gerade den Unterschied des
„modernen“ Staates vom „mittelalterlichen“, daß
dieser den Staat und die Staatsgewalt von Gott
ableitet, während jener sich „bescheidet, den Ge-
danken Gottes nicht ergründen zu können, und
sich bemüht, den Staat menschlich zu begreifen“
(a. a. O. 64). Gelingt also einer Nation die
Staatsbildung, so ist sie politisch befähigt; unter-
liegt sie hingegen mächtigeren Völkern, so ist das
ein Zeichen ihrer politischen Unfähigkeit, und ihre
Unterwerfung besteht zu Recht. Hier haben wir
eine ziemlich unverblümte Proklamierung des
Rechts des Stärkeren. Den Sarazenen und Tür-
ken gelang es, in Asien und Europa zahlreiche
Völker mit Gewalt dauernd zu unterjochen. Folg-
lich hatte das „Gottesgericht in der Weltgeschichte"
die politische Unfähigkeit dieser Völker ausge-
sprochen, ihre Unterwerfung war berechtigt. Alle
Eroberungen der Engländer und Russen in Asien
bestehen zu Recht. Sollte es morgen einem kühnen
russischen Eroberer gelingen, sich Deutschland
dauernd zu unterwerfen, so wäre Deutschland als
politisch unfähig zu betrachten. — Die Behaup-
tung Bluntschlis, jede Nation, welche die Kraft
zur Staatenbildung in sich verspüre, habe das
Recht, alle Glieder zu sammeln, deren sie zu ihrer
Entfaltung bedürfe, setzt außerdem voraus, die
Nation bilde als solche schon vor jeder politischen
Organisation ein einheitliches Rechtssubjekt. Das
ist aber ein Irrtum, der noch als ein Rest Hegel-
scher pantheistischer Anschauungen angesehen wer-
den mag und von den vielen Verteidigern des
Nationalitätsprinzips stillschweigend vorausgesetzt
wird. Ist eine Nation nicht staatlich geeint, so
bildet sie gar keine physische oder moralische Ein-
heit, sondern bloß eine logische oder begriffliche,
ähnlich wie alle Handwerker oder Soldaten in
Europa eine begriffliche Einheit bilden. Der
Begriff Nation bezeichnet dann nichts anderes als
die Gesamtzahl aller Individuen, welche denselben
Nationaltypus haben und dieselbe Nationalsprache
reden. So bilden die Deutschen in Deutschland,
Osterreich, der Schweiz, in Rußland, Ungarn,
Luxemburg, obwohl sie derselben Nation an-
gehören, doch keinen einheitlichen Besitzer von
Rechten oder eine moralische Person. Man kann
daher auch nicht von einem einheitlichen Recht der
Nation als solcher, sondern nur von Rechten der
Individuen auf Grund ihrer Nationalität sprechen.
Vielleicht wird man uns das entgegenhalten,
was wir oben über die providentielle Bedeutung
der Verschiedenheit der Nationen gesagt haben:
hat jede Nation eine ihr von der Vorsehung zu-
gewiesene Aufgabe, so hat sie auch die dazu
nötigen Rechte, also vor allem das Recht der
Selbständigkeit. Wir erwidern: Wenn wir von
Aufgaben der Nationen sprechen, so verstehen wir
Nation ufw.
1288
darunter nur die Aufgaben, welche von der Vor-
sehung den Gliedern einer Nation im allgemeinen
zugeteilt sind, ohne der Nation als solcher oder
den einzelnen Individuen derselben eine strenge
Verpflichtung aufzuerlegen. Die bloß logische
Einheit dieser Aufgaben macht die Nation nicht
zu einer moralischen oder juristischen Person,
welche als solche der Träger einheitlicher Rechte
wäre. Man kann also nicht von einem „Recht der
Nation auf Sammlung ihrer Glieder“ sprechen.
Sodann geben die genannten Aufgaben den Glie-
dern einer Nation nicht das Recht auf alle, son-
dern nur auf sittlich erlaubte, niemand un-
gerecht schädigende Mittel. Es handelt sich ja
hier, wie schon bemerkt, nicht um Aufgaben, zu
denen Gott die einzelnen unbedingt verpflichtet,
sondern um solche, zu deren Erfüllung er sie auf
sanfte Weise durch ihre Anlagen hinzieht. So
haben, um uns eines Vergleichs zu bedienen, alle
Menschen im allgemeinen einen ihnen von der
Vorsehung bestimmten Beruf. Doch verpflichtet
Gott die einzelnen nur dann zur tatsächlichen
Ergreifung dieses Berufes, wenn ihnen derselbe
zur Erreichung ihres letzten Zieles notwendig ist.
Außer diesen Fällen begnügt er sich, sie auf sanfte
Weise und ohne Zwang ihrem Berufe zuzuführen.
so daß der menschlichen Freiheit immer der größte
Spielraum gelassen wird. Es kann daher auch
niemand auf die allgemeine Bestimmung zu einem
Beruf die Befugnis gründen, sich über bestehende
Rechte hinwegzusetzen. In noch viel höherem
Maße gilt dies von den den Nationen gesetzten
Aufgaben. Denn diese sind weniger notwendig
und minder genau umgrenzt als die verschiedenen
Lebensberufe der einzelnen Menschen, daher ver-
pflichtet auch Gott weder die gesamte Nation
noch die einzelnen Individuen derselben unbedingt
zur Erfüllung dieser Aufgaben. Ohne Zwang
weiß er sie durch ihre Anlagen und Neigungen
seinen Absichten dienstbar zu machen. Daraus
folgt nun wohl die Pflicht, die Nationalität nicht
gewaltsam zu unterdrücken und den einzelnen An-
gehörigen derselben, soweit keine höheren Rechte
im Wege stehen, Licht und Raum zur Entfaltung
zu gewähren. Aber ein Recht der Nation in ihrer
Gesamtheit oder in ihrer Mehrheit, die bestehen-
den Staatenordnungen umzustürzen und einen
neuen Staat zu gründen, läßt sich daraus nicht
herleiten.
Es wird dies noch einleuchtender, wenn wir
bedenken, daß die Nationalitäten ihre Haupt-
bedeutung auf dem Gebiete der Kultur in Bezug
auf Sitten, Wissenschaft, Kunst und Literatur
haben und diese Kulturaufgaben sich auch lösen
lassen, wenn eine Nation ganz oder teilweise
fremder Herrschaft unterworfen ist. Man denke
nur an den Einfluß der Hellenen auf die Kultur
des römischen Reichs. Ja gerade durch gegen-
seitigen Verkehr und mannigfache politische Ver-
mischung werden die durch die Verschiedenheit der
Nationalitäten bedingten Vorteile oft am leich-