Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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dem letzteren und dem Naturrecht ein, dem es 
offenbar, wenn nicht der Form, so doch dem In- 
halte nach angehört, während das ius eivils dem 
Inhalte und der Form nach als positives mensch- 
liches Recht galt. 
Die Klarstellung dieser Lehre, die übrigens 
ihre Anhaltspunkte schon bei Aristoteles findet, 
namentlich in seiner Einteilung des in einem 
Staate geltenden Rechts (S#####ov Kol##é) in 
ein solches, welches er pvo##é, (ein dem Inhalte 
nach natürliches), und ein solches, welches er 
vohtay' (menschlich legales) nennt (Ethic. Nic. 
5, 10, 1134 b, 18), ist heute nicht ohne prak- 
tisches Interesse. Gegenüber dem bereits mehr- 
fach unternommenen Versuch, nämlich unter An- 
rufung der Autorität des hl. Thomas gewisse 
allgemein bestehende gesellschaftliche Einrichtungen, 
die derselbe unter dem positiven ius gentium be- 
greist, insbesondere das Privateigentum, als 
gleichwertig mit jedem andern menschlichen Recht 
der Willkür menschlicher Reformbestrebungen aus- 
zuliefern, ist es von hoher Wichtigkeit, die wahre 
Ansicht des Englischen Lehrers bezüglich des ius 
gentium und seines Verhältnisses zum jus na- 
turale ausdrücklich zu konstatieren. Die Aus- 
führungen des hl. Thomas selbst haben uns dar- 
über keinen Zweifel übrig gelassen, indem er 
wiederholt eben dieses ius gentium, welches er 
bezüglich der Gesetzesform dem positiven Recht 
beizählte, gleichwohl inhaltlich (als iustum na- 
turale) dem eigentlichen Naturrecht gleichzustellen 
kein Bedenken trug, wie denn auch in dieser Eigen- 
schaft allein der Grund lag, warum es als ein 
allen Völkern gemeinsames dem wandelbaren be- 
sondern Nationalrecht, dem ius civile, gegenüber- 
gestellt wurde (S. theol. 2, 2, d. 67, a. 2 et 3; 
vgl. Cathrein im Philosoph. Jahrbuch 1889, II, 
Art.: Das lus gentium usw.; — vgl. Bd II, 
Sp. 492). 
4. Eine noch engere Fassung des Naturrechts 
gegenüber dem ius gentium findet sich bei einem 
Teil der römischen Juristen, doch hat dieselbe später 
in der christlichen Schule keine wirkliche Geltung 
erlangt. Sie gründet sich auf die materielle Ver- 
schiedenheit des Inhaltes (materia) der als not- 
wendig erkannten praktischen Forderungen der 
Vernunft. Ausgehend von der Scheidung zwi- 
schen Geist und Natur, Geistesleben und Sinnes- 
leben, erkannte man im Menschen nur das als 
eigentlich zur „Natur“ gehörig an, was derselbe 
mit den Tieren gemein hat, mit Ausschluß dessen, 
was ihn als Vernunftwesen, als Mensch kenn- 
zeichnet. So kam es, daß man unter dem Namen 
Naturrecht nur jene Forderungen der Vernunft 
verstand, welche sich auf Gegenstände beziehen, 
die zum Tierleben naturgemäß überhaupt not- 
wendig, daher auch dem instinktiven Erkennen 
der Tiere nahegelegt sind, während alle jene, 
welche sich auf das freie menschliche Vernunftleben 
beziehen, dem ius gentium beigezählt wurden. 
Daraus entstand das später wenig verstandene 
Naturrecht usw. 
  
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und viel mißbrauchte Arxiom: Lus naturae est, 
duod natura omnia animalia docuit, und die 
Erklärung: Ius naturale zest, duod omnibus 
animalibus, ins gentium, qduod solis homini- 
bus inter se commune est. Damit sollte jedoch 
nach der Absicht dieser Juristen lediglich eine theo- 
retisch -wissenschaftliche Unterscheidung gegeben, 
nicht aber das ius naturale als von der Vernunft 
emanzipiert erklärt werden (vgl. St Thomas in 
Aristot. Ethic. 5, lect. 12; Supplem. q. 65, 
a. 1 ad 4). Es wäre daher ein schwerer Irrtum, 
zu glauben, das Wesen des Naturrechts werde 
hier als gleichbedeutend mit einem gänzlich recht- 
losen Zustand oder als das im Tierreich herr- 
schende brutale „Recht des Stärkeren“ hingestellt. 
Spuren dieses Mißverständnisses lassen sich in 
der Tat unschwer entdecken in der bekannten Fik- 
tion jenes tierischen „Naturzustandes“, aus dem 
obbes (s. Bd II, Sp. 1241) die menschliche und 
bürgerliche Gesellschaft durch einen künstlichen, vom 
Selbsterhaltungstrieb eingegebenen Sozialvertrag 
hervorgehen läßt. 
5. Ubrigens gehört die ganze der älteren Rechts- 
wissenschaft so geläufige Unterscheidung zwischen 
ius naturale und ijus gentium heute nur noch 
der Geschichte an. Schon im 17. Jahrh. kam 
dieselbe der Sache nach mehr und mehr außer 
Gebrauch, wenn auch die systematischen Bearbei- 
tungen des Naturrechts noch mehrfach die Über- 
schrift trugen: De iure naturae et gentium, 
z. B. bei Pufendorf, Heineccius u. a. Was 
bisher unter dem Namen ius gentium eine Art 
Mittelglied zwischen dem natürlichen und dem 
positiven Recht gebildet hatte, wurde nun vielmehr 
in dem Namen Naturrecht einbegriffen und so das 
eigentliche positive menschliche Recht in strengere 
Grenzen gefaßt. Dabei wurde jedoch nicht aus- 
geschlossen, daß das an sich natürliche Recht über- 
dies positiv-rechtliche Geltung erhalten und in- 
sofern zugleich der einen oder der andern Ordnung 
angehören kann, wie dies tatsächlich bezüglich 
des größeren Teiles der natürlichen Rechte der 
Fall ist. Obwohl die ältere Auffassung nicht nur 
in der Sache logisch wohl begründet, sondern auch 
durch die Tradition der christlichen Wissenschaft 
und ihrer hervorragendsten Vertreter ehrwürdig 
und beglaubigt war, so läßt sich gleichwohl ander- 
seits der unter veränderten Zeitumständen er- 
wachsenen Neuerung wenigstens ein gewisser Vor- 
zug der Einfachheit und Klarheit schwerlich ab- 
sprechen. Sie wird deshalb auch in der oben 
aufgestellten Begriffsbestimmung des Naturrechts 
im weiteren und engeren Sinne unbedenklich vor- 
ausgesettt. 
II. Charakter, VPerhältnis zur Moral 
und zum positiven Recht. Aus dem wahren 
Begriff des Naturrechts ergeben sich zugleich seine 
charakteristischen Eigenschaften. Dabei kommen 
hauptsächlich drei Momente in Betracht: 1. sein 
unmittelbares Prinzip, das „Naturgesetz“ (lex 
naturalis), 2. seine Beziehung zu dem in Gott
	        
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