1301
ordnung kann, in sich allein betrachtet, nicht als
hinreichend angesehen werden, um der Absicht des
Schöpfers gemäß allen vernunftbegabten Menschen
die zur Befolgung des ganzen sittlichen und recht-
lichen Inhalts des Naturgesetzes nötige Klarheit
der Erkenntnis zu vermitteln. Gleichzeitig aber
weist die Kirche ebenso entschieden den Irrtum
zurück, welcher der natürlichen Vernunft überhaupt
die Fähigkeit abspricht, die Wahrheiten auch der
übersinnlichen und moralischen Ordnung mit voll-
kommener Gewißheit zu erkennen. Trot der rela-
tiven Unzulänglichkeit der menschlichen Vernunft,
den ganzen Inhalt des natürlichen Sittengesetzes
unter allen Umständen mit der erforderlichen
Leichtigkeit und Sicherheit zu erfassen und im
einzelnen in Anwendung zu bringen, gibt es un-
zweifelhaft eine große Summe natürlicher Pflichten
und Rechte, deren unmittelbarer Anerkennung sich
keine gesunde Vernunft entziehen kann. Innerhalb
eines gewissen Umfangs läßt sich daher tatsächlich
ein durch die natürliche Vernunft hinreichend pro-
mulqiertes Naturrecht nicht in Abrede stellen.
Den immerhin vorhandenen Mängeln einer
bloßen Vernunfterkenntnis hat der götliche Ge-
setzggeber durch die Zugabe der positiven Ge-
setzgebung vorsorglich gesteuert. Im Dekalog be-
sitzen wir gewissermaßen eine Kodifikation der sog.
Praecepta secundaria des natürlichen Sitten-
gesetzes und weiterhin in der Moral des Evan-
geliums die Anweisung zu deren vollkommener
Beobachtung. Was aber im besondern die natür-
liche Rechtsordnung betrifft, so geht schon das
Naturgesetz von der Voraussetzung aus, daß der
Mensch sich als Glied der menschlichen Gesellschaft
zu fühlen und zu betätigen hat, und fordert des-
halb als ein naturnotwendiges Element der ge-
sellschaftlichen Organisation die menschliche Autori-
tät und mit dieser auf naturrechtlichem Grund das
positive menschliche Recht. Letzterem kommt es da-
her nicht zu, sich einfach an die Stelle des natür-
lichen Rechts zu setzen, in welchem es seine unent-
behrliche Unterlage hat. Vielmehr ist dasselbe nach
der Absicht des göttlichen Gesetzgebers dazu be-
rufen, das Naturrecht, soweit dies erforderlich
scheint, gleichsam praktisch zu ergänzen, und zwar
in doppelter Weise: 1) indem es allgemein natür-
liche Rechtssätze in sich aufnimmt und so als be-
stimmt formuliertes positives Recht der menschlichen
Strafgewalt unterstellt; 2) indem es im Geiste
und nach dem Zwecke der natürlichen Rechtsord-
nung nach Erfordernis der Umstände auch rein
positive Bestimmungen hinzufügt. So soll nach
göttlicher Anordnung in der menschlichen Gesell-
schaft natürliches und positives Recht, letzteres im
Dienste des ersteren, als einheitliches Ganzes die
gesamte soziale Ordnung begründen und erhalten.
Insofern hat auch der Richter ganz nach Absicht
des natürlichen Rechts nach dem positiven Gesetz
Recht zu sprechen.
III. Naturrecht als seköständige Wissen-
schaft. Das Naturrecht in dem bisher dargelegten
Naturrecht usw.
1302
Sinne bedeutet die allgemeinen Rechtsgrundsätze,
die der Schöpfer allen Menschen ins Herz ge-
schrieben hat, sowie der sich daraus ergebenden
Schlußfolgerungen und natürlichen Rechtsbefug-
nisse. Seit dem 17. Jahrh. pflegt man vielfach
auch die Wissenschaft von diesem Recht Natur-
recht zu nennen. Heute wird diese Wissenschaft,
und wohl besser, Rechtsphilosophie genannt.
Das Naturrecht in diesem Sinne oder die Rechts-
philosophie sucht die natürliche Rechtsordnung in
ihrem Wesen, ihren letzten Gründen und ihren
Beziehungen zum positiven Recht allseitig zu er-
fassen und klarzulegen. Da die Rechtsordnung ein
Teil der sittlichen Ordnung ist, so bildet die Rechts-
philosophie einen Teil der Moralphilosophie oder
Ethik. Im Zusammenhang mit der gesamten sitt-
lichen Ordnung hat schon Aristoteles in seiner
Ethik das Recht philosophisch behandelt. Das-
selbe taten die Scholastiker, z. B. Thomas von
Aquin, Dom. Soto, L. Molina. L. Lessius u. a.,
und immer muß die Rechtsphilosophie die obersten
Begriffe und Grundsätze dem allgemeinen Teil der
Moralphilosophie entlehnen. Doch hindert nichts,
die Rechtsphilosophie auch gesondert von der übri-
gen Moralphilosophie als eigne Wissenschaft zu
behandeln, und weil dies zuerst von Hugo Gro-
tius in seinem Werke De jure belli et pacis
(s. Bd II, Sp.t06) geschah, pflegt dieser als der
Begründer des Naturrechts oder der Rechtsphilo-
sophie angesehen zu werden. Als rechtschaffener
Charakter haßte Grotius im öffentlichen wie im
Privatleben nichts mehr als die Anwendung des
frivolen Rützlichkeitsprinzips auf Kosten der ewigen
Grundsätze der Moral und des Rechts. Er hatte
aber häufig Gelegenheit, im öffentlichen Verkehr
den Unterschied von ehemals und jetzt nicht ohne
Betrübnis zu bemerken. Das völkerrechtliche Band,
welches ehemals die europäischen Staaten auf
Grund der gemeinsamen Kirche untereinander ge-
einigt hatte, war zerrissen. Der Kaiser wurde nicht
mehr als der oberste Schirmherr, noch viel weniger
der Papst als Schiedsrichter über ihre Streitig-
keiten anerkannt. Und so waren die europäischen
Zustände der unbegrenzten Vergrößerungssucht der
Höfe und der machiovellistischen Politik preisge-
geben. Unter diesen Umständen fühlte Grotius
das Bedürfnis nach einer neuen, allgemein gül-
tigen Grundlage für das Völkerrecht. Er unter-
nahm es also, darzutun, daß nicht nur im Privat-
leben, sondern auch in den gegenseitigen Verhält-
nissen der Völker, unter allen Voraussetzungen,
im Kriege wie im Frieden, nicht bloß der Nutzen,
sondern das Recht gelten müsse, und zwar aus-
drücklich ein auf Ethik gegründetes Recht. Diese
allgemeingültige Grundlage konnte aber, da es
eine allgemein anerkannte Glaubensnorm nicht
mehr gab, nur in der vernünftigen Natur gefunden
werden. Denn nur die natürliche Vernunft war
als geistiges Gemeingut der Menschheit durch das
Prinzip der freien Forschung von vornherein noch
nicht in Frage gestellt. Hiermit war für Grotius