Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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ordnung kann, in sich allein betrachtet, nicht als 
hinreichend angesehen werden, um der Absicht des 
Schöpfers gemäß allen vernunftbegabten Menschen 
die zur Befolgung des ganzen sittlichen und recht- 
lichen Inhalts des Naturgesetzes nötige Klarheit 
der Erkenntnis zu vermitteln. Gleichzeitig aber 
weist die Kirche ebenso entschieden den Irrtum 
zurück, welcher der natürlichen Vernunft überhaupt 
die Fähigkeit abspricht, die Wahrheiten auch der 
übersinnlichen und moralischen Ordnung mit voll- 
kommener Gewißheit zu erkennen. Trot der rela- 
tiven Unzulänglichkeit der menschlichen Vernunft, 
den ganzen Inhalt des natürlichen Sittengesetzes 
unter allen Umständen mit der erforderlichen 
Leichtigkeit und Sicherheit zu erfassen und im 
einzelnen in Anwendung zu bringen, gibt es un- 
zweifelhaft eine große Summe natürlicher Pflichten 
und Rechte, deren unmittelbarer Anerkennung sich 
keine gesunde Vernunft entziehen kann. Innerhalb 
eines gewissen Umfangs läßt sich daher tatsächlich 
ein durch die natürliche Vernunft hinreichend pro- 
mulqiertes Naturrecht nicht in Abrede stellen. 
Den immerhin vorhandenen Mängeln einer 
bloßen Vernunfterkenntnis hat der götliche Ge- 
setzggeber durch die Zugabe der positiven Ge- 
setzgebung vorsorglich gesteuert. Im Dekalog be- 
sitzen wir gewissermaßen eine Kodifikation der sog. 
Praecepta secundaria des natürlichen Sitten- 
gesetzes und weiterhin in der Moral des Evan- 
geliums die Anweisung zu deren vollkommener 
Beobachtung. Was aber im besondern die natür- 
liche Rechtsordnung betrifft, so geht schon das 
Naturgesetz von der Voraussetzung aus, daß der 
Mensch sich als Glied der menschlichen Gesellschaft 
zu fühlen und zu betätigen hat, und fordert des- 
halb als ein naturnotwendiges Element der ge- 
sellschaftlichen Organisation die menschliche Autori- 
tät und mit dieser auf naturrechtlichem Grund das 
positive menschliche Recht. Letzterem kommt es da- 
her nicht zu, sich einfach an die Stelle des natür- 
lichen Rechts zu setzen, in welchem es seine unent- 
behrliche Unterlage hat. Vielmehr ist dasselbe nach 
der Absicht des göttlichen Gesetzgebers dazu be- 
rufen, das Naturrecht, soweit dies erforderlich 
scheint, gleichsam praktisch zu ergänzen, und zwar 
in doppelter Weise: 1) indem es allgemein natür- 
liche Rechtssätze in sich aufnimmt und so als be- 
stimmt formuliertes positives Recht der menschlichen 
Strafgewalt unterstellt; 2) indem es im Geiste 
und nach dem Zwecke der natürlichen Rechtsord- 
nung nach Erfordernis der Umstände auch rein 
positive Bestimmungen hinzufügt. So soll nach 
göttlicher Anordnung in der menschlichen Gesell- 
schaft natürliches und positives Recht, letzteres im 
Dienste des ersteren, als einheitliches Ganzes die 
gesamte soziale Ordnung begründen und erhalten. 
Insofern hat auch der Richter ganz nach Absicht 
des natürlichen Rechts nach dem positiven Gesetz 
Recht zu sprechen. 
III. Naturrecht als seköständige Wissen- 
schaft. Das Naturrecht in dem bisher dargelegten 
Naturrecht usw. 
  
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Sinne bedeutet die allgemeinen Rechtsgrundsätze, 
die der Schöpfer allen Menschen ins Herz ge- 
schrieben hat, sowie der sich daraus ergebenden 
Schlußfolgerungen und natürlichen Rechtsbefug- 
nisse. Seit dem 17. Jahrh. pflegt man vielfach 
auch die Wissenschaft von diesem Recht Natur- 
recht zu nennen. Heute wird diese Wissenschaft, 
und wohl besser, Rechtsphilosophie genannt. 
Das Naturrecht in diesem Sinne oder die Rechts- 
philosophie sucht die natürliche Rechtsordnung in 
ihrem Wesen, ihren letzten Gründen und ihren 
Beziehungen zum positiven Recht allseitig zu er- 
fassen und klarzulegen. Da die Rechtsordnung ein 
Teil der sittlichen Ordnung ist, so bildet die Rechts- 
philosophie einen Teil der Moralphilosophie oder 
Ethik. Im Zusammenhang mit der gesamten sitt- 
lichen Ordnung hat schon Aristoteles in seiner 
Ethik das Recht philosophisch behandelt. Das- 
selbe taten die Scholastiker, z. B. Thomas von 
Aquin, Dom. Soto, L. Molina. L. Lessius u. a., 
und immer muß die Rechtsphilosophie die obersten 
Begriffe und Grundsätze dem allgemeinen Teil der 
Moralphilosophie entlehnen. Doch hindert nichts, 
die Rechtsphilosophie auch gesondert von der übri- 
gen Moralphilosophie als eigne Wissenschaft zu 
behandeln, und weil dies zuerst von Hugo Gro- 
tius in seinem Werke De jure belli et pacis 
(s. Bd II, Sp.t06) geschah, pflegt dieser als der 
Begründer des Naturrechts oder der Rechtsphilo- 
sophie angesehen zu werden. Als rechtschaffener 
Charakter haßte Grotius im öffentlichen wie im 
Privatleben nichts mehr als die Anwendung des 
frivolen Rützlichkeitsprinzips auf Kosten der ewigen 
Grundsätze der Moral und des Rechts. Er hatte 
aber häufig Gelegenheit, im öffentlichen Verkehr 
den Unterschied von ehemals und jetzt nicht ohne 
Betrübnis zu bemerken. Das völkerrechtliche Band, 
welches ehemals die europäischen Staaten auf 
Grund der gemeinsamen Kirche untereinander ge- 
einigt hatte, war zerrissen. Der Kaiser wurde nicht 
mehr als der oberste Schirmherr, noch viel weniger 
der Papst als Schiedsrichter über ihre Streitig- 
keiten anerkannt. Und so waren die europäischen 
Zustände der unbegrenzten Vergrößerungssucht der 
Höfe und der machiovellistischen Politik preisge- 
geben. Unter diesen Umständen fühlte Grotius 
das Bedürfnis nach einer neuen, allgemein gül- 
tigen Grundlage für das Völkerrecht. Er unter- 
nahm es also, darzutun, daß nicht nur im Privat- 
leben, sondern auch in den gegenseitigen Verhält- 
nissen der Völker, unter allen Voraussetzungen, 
im Kriege wie im Frieden, nicht bloß der Nutzen, 
sondern das Recht gelten müsse, und zwar aus- 
drücklich ein auf Ethik gegründetes Recht. Diese 
allgemeingültige Grundlage konnte aber, da es 
eine allgemein anerkannte Glaubensnorm nicht 
mehr gab, nur in der vernünftigen Natur gefunden 
werden. Denn nur die natürliche Vernunft war 
als geistiges Gemeingut der Menschheit durch das 
Prinzip der freien Forschung von vornherein noch 
nicht in Frage gestellt. Hiermit war für Grotius
	        
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